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Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Titel: Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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und ganze Abende verbrachten wir in dem Goltzstraßen-Café, einem vormals weißgefliesten Milchgeschäft. In stundenlangen Sitzungen saßen wir das Plastikgeflecht der Alu-Stühle langsam durch und tranken an einem der zehn, zwölf kleinen Blechtische etliche Tassen Kaffee für eine Mark zwanzig. Schwer zu sagen, warum es die Spezies der Kunstbewegten ausgerechnet in dieses eisdielenartige Café lockte … Die Softies in Baumwolle, die Krieger in Leder, Männer, die vorm Spiegel schon mehr Zeit als Büromenschen brauchten und dann noch einen Fetzen Fell oder Riß in der Hose in die Optik ihrer Garderobe einarbeiten mußten. Frauen fingen sich Blicke mit offensiv aufgetragenem Cajal, alle Kleidung und das vorgezeigte Image tendierten stark ins Schwärzliche – schon ein Schönemenschentreff, alle eng beiander, redselig und daueraufgeregt, etwa zur Hälfte akademisch, der Rest eher nicht, und alle zusammen gierig nach Interessantheit. Leiser und ich setzten uns vorzugsweise an die Tische vorm Café – eine Neuerung damals, die Lokale aufzuhellen und herauszustülpen auf die Bürgersteige. Der new-wave genannte Stil, von SPIEGEL und newsweek fotografiert, gefiel den sachlich-nüchternen wie auch den narzistisch veranlagten Gästen und beglückte sie alle mit dem langsam stärker werdenden Gefühl, zur Avantgarde eines kunstorientierten, subversiven und zunächst nur wenigen Auserwählten möglichen Lebensstils zu gehören. Während der politische Arm der Vorposten-Vorhut im Bobby-Sands-Pub eines besetzten Häuserblocks am Winterfeldtplatz Billigbier trank und wüste antiamerikanische Demos organisierte, malten, filmten und musizierten die boys und girls ihres im »Mitropa« versammelten ästhetischen Arms – mitunter gelang sogar eine Synthese. Im »Mitropa« kamen fortwährend all die widerständigen Aktivitäten zur Sprache, die Konzert- und Leseerlebnisse, die französischen Philosophen, der Handke, meines Freundes Jeannots »Geschichte des Fahrstuhls«, der mißglückte Dylan-Abend in der Deutschlandhalle, auch das berühmte 68 er-Foto mit Salvatore und Dutschke in der ersten Aufmarschreihe, eingehakt bei Antje, die zehn Jahre nach der Demo äußerlich unverändert hier am Nebentisch saß, im Gespräch mit Tabea, genannt Blumenkasten, einer Monroe-Doppelgängerin aus der lokalen Filmemacherei …
     
    Eine unglaublich schlechte Schauspielerin, hatte Leiser wahrscheinlich an der Stelle gesagt – aber diese Haut, diese Rundungen … ein Türkentraum.
    Die spielt doch gar nicht, dürfte ich gesagt haben, sie isses selbst, wenn sie als Bildnis einer Trinkerin durch die halbverlassenen Gewerbebrachen längs der S-Bahn stolpert und ins Gleisbett fällt, die Wodkaflasche in der Hand …
    … ein klarer Fall von Ruinenmißbrauch im Film, eine hemmungslose, doppelte Ausbeutung, die Verklärung Joseph Roths und die Verklärung des Leidens der Trümmerfrauen, gesehen wie immer im »Arsenal«.
     
    Das Reden über Anwesende gehörte im »Mitropa« zur Hauptbeschäftigung der Anwesenden, selbstverständlich auch das Wunschpartnerauskucken … das Kucken überhaupt, immer auf der Pirsch nach flüchtigem Glanz, nach verborgenen Qualitäten. In Leisers und meinen Kommentaren überwog die skeptische Grundhaltung, versteht sich. Was nicht schön war, wurde von uns sofort erkannt – wenn etwas schön war, brauchten wir dagegen länger, bis es einer aussprach. Oft blieb’s beim Männergeraune, realistischerweise ins Spielerische gewendet wie bei Leisers Verlangen nach Babyspeck, eine Phantasie bloß – Tabea fühlte lesbisch. Ein schöner Anblick, wenn sie in der Mittagssonne im weißen Hemdchen ihre Federbetten auf der Fensterbank zurechtschüttelte – sie lebte mit ihrer älteren Partnerin in meiner Nachbarschaft.
     
    Auch ihr Film dürfte nur ein weiterer Film aus der Goltzstraße gewesen sein, einer der vielen Café-Mitropa-Filme, von mir seinerzeit zum eigenständigen deutschen Genre erklärt. Im Fernsehen gab’s in dieser Phase jeden Monat mindestens einen Goltzstraßenfilm zu sehen, mit einer ganz eigenen Schöneberger Ästhetik. Experimente wie ein mit der sogenannten Helm-Kamera gefilmter Kochfilm, dazu etliche schnittheoretisch weiterführende Flackerfilme, in denen die Mauer tausende Male rhythmisch aus der Erde springt, Agitprop-Dramen, die in schludrig errichteten Bambushütten eines vietnamesischen Bauerndorfs im Tiergarten spielten – aus dem Mitropa direkt ins ZDF . »Das kleine Fernsehspiel«, hieß die

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