Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire
Eine neue Verheißung, gar ein Epochenwandel zehn Jahre nach der Kulturrebellion – von der RAF -Eiszeit direkt in die Neuberliner Leichtigkeit des Seins? Du darfst nicht alles glauben, was du denkst, hatte Leiser zu diesen Theorien gesagt, du verwechselst ohnehin den Kunstbetrieb mit Kunst. Er jedenfalls ließe sich nicht am Nasenring dieses Betriebs durch die halbe Stadt ziehen. Offenbar glaubte ich damals, daß die Beschäftigung mit Kunst unabdingbar zum Selbstverbesserungsprogramm gehörte – auch wenn sie zunächst oberflächlich abliefe, könnte sie ja später immer noch vertieft werden. Schließlich brachen hier alle Gattungen gleichzeitig zu neuen Ufern auf, in der Musik, der Malerei, im Film … eine historische Schnittstelle. Die Hochkultur hatte im Zuge der 68 er Bewegung den Anspruch auf Alleinherrschaft verloren, im selben Zuge waren die massenkompatiblen Werke der Subkultur (hinter-)hoffähig geworden. Diese Kunst verließ die traditionellen Räume und Rahmen und machte neugierig, Hochkunst hin, Tiefkunst her – in Kreuzberg bastelten Dilettanten, die sich geniale Dilletanten nannten, an gar nicht gekonnter, lustiger Kunst zum Mitmachen. In dieser schöpferischen, Westberliner Atmosphäre fühlte ich mich relativ schnell wohl – ohne selbst ernsthaft aktiv werden zu wollen.
Katja dagegen schien zu wissen, was gute Kunst ist – für sie war das Schöne auch das Wahre. Sie sammelte rare Drucke von Jim Dine, sie kannte Dalí. Eines Tages war sie von Hamburg nach Cadaquès gefahren und hatte bei den Dalís an der Tür geklingelt – sein Sekretär lud sie zur allabendlich wenigen Auserwählten gewährten Audienz ins Haus, eine aufregende Einladung für eine Neunzehnjährige. Sie hatte mir bereits anfangs erzählt, wie sie zu Dalí gereist war – aus großer Verliebtheit, um ihrem neuen Freund zu beweisen, wie ernst sie die Kunst nehme. Drei Jahre dauerte die Liebe mit diesem Larsen, einem Maler, der es währenddessen schaffte, mit einem einzigen Motiv bekanntzuwerden: seinen realistisch anmutenden Wüstenbildern, naturgemäß in gelblich-braunen und bläulich-schwarzen Farbtönen von Dalíscher Leuchtkraft, stets ähnlich und doch variiert, da er jeweils einen dreieckigen Wimpel hineinmalte, der an dünnen Stangen im mal dünenartig gewellten, mal ebenen Sandboden steckte. Nichts anderes im Bild, nur die Wüste und dieser eine Wimpel, den vermutlich jeder gern irgendwo signifikant hineingesteckt haben würde – im eigenen Garten, bei Tobruk oder auf dem Mond … Von beiden Malern zeigte sich Katja allerdings ziemlich enttäuscht. Larsen ließ sie zurück, nachdem all seine Wimpelbilder von einer großen Kaffeerösterei als Weihnachtsgeschenke für die Vorstände gekauft wurden – ihm Anschub genug, um auf immer in den pazifischen Raum zu verschwinden und als Stammesfürst auf einer kleinen Tropeninsel mit den einheimischen Frauen Kinder zu machen. Und Dalí desillusionierte sie dadurch, daß er sie für den nächsten Abend wieder zu sich einlud – dieses Mal nur sie sowie einen weiteren jungen Gast der Audienz. Die neuerliche Einladung verband sich mit der Forderung, daß sie und der junge Mann im Laufe des Abends unbedingt vögeln sollten – Dalí sähe es gern, sagte der Sekretär, wenn andere das in seinem Hause täten.
Wahrscheinlich erzählte ich solche Geschichten oft weiter – ohne daß dies mein Ansehen besonders gesteigert hätte. Wahrscheinlich erzählte ich auch Geschichten aus meinen früheren Arbeitswelten, den drei Jahren als Provinz-Reporter, den fünf, sechs Jahren in meinem Firmenkollektiv, das schließlich, wie’s auf dem Briefkopf stand, im Zwischenreich von art and technology wirkte. Gut möglich, daß ich abends im Mitropa halbbegriffene Theorien oder unverdaute Erfahrungen eines Dreißigjährigen von mir gab und wie einige andere hier dachte, Kunst wäre zunächst mal Quatschen im Café. In dieser Zeit begann ja für die meisten Nachberlingeher die kommunikativste Ära ihres Lebens. Als alter Gruppenmensch kam ich sogar wieder in Gründerlaune; das Ergebnis hieß LEO und war eine blitzschnell gemachte Zeitschrift, ein notizblockartiges DIN -A- 6 Heft, darin Bildchen, Liedtexte, Zeichnungen und Kurz-Comics, ausschließlich von Mitropa-Gästen. Doch auf einen Beitrag von Thomas Leiser mußte die Caféhaus-Redaktion verzichten. Auch einige andere wollten nichts herausrücken. Wer nicht kumpelte, dachte ich damals, der hat wahrscheinlich Großes vor.
Halbe Tage
Weitere Kostenlose Bücher