Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire
sie, die große Zeit.
Anderntags saßen wir wieder draußen vorm Mitropa, fragten die Frauen am Nebentisch, pantomimisch an ihnen vorbeiflüsternd, nach ihren Hobbys und kuckten den lokalen Zelebritäten dabei zu, wie sie nach ihren Plätzen suchten. Müller Eins, der über Nelson Goodman promovierte, grüßte rüber, Müller Zwei, Performancegruppenleiter, grüßte ebenso wie der schon angesoffene Eckhard, Hegelkreisleiter, den demnächst die Faust des ganz und gar erstaunlichen Thomas Leiser mitten ins Gesicht treffen würde, was die auch von uns beiden besuchte donnerstägliche Diskussionsrunde auf einen Schlag beendete. Luciano und Salomé, meine Lieblingswilden und Arschficker, fanden ihren Tisch, auch der anzugtragende Effjott, ein Gitarrist von Welt, begleitet von einem unbekannten Busenwunder.
Schau mal, wer dort drüben geht, hatte Leiser gesagt.
Ein schwarzgekleideter, blasser junger Mann mit langem, strähnigem Haar zog einen hölzernen Handwagen über die Straße – darin gut sichtbar Eisenrohre, Schrottreste, ein Preßlufthammer und eine bunte, hundert Liter fassende Waschmitteltonne von Fakt.
… Pappe und Stahl, hatte ich gesagt, der Junge hat alle seine Instrumente dabei – der fährt zum Übungskeller seiner Band in der Langenscheidtstraße und dengelt da die Bleche …
… auf seiner Gitarre ist nur eine Saite drauf, ab und an zupft er daran und kreischt zum Erbarmen, das universelle Klagegeschrei eines Zwanzigjährigen …
… der Krächzer Gottes … so beginnt eine Weltkarriere …
… da kommen noch schöne Konzerte seiner Band auf uns zu – Bleche, Bosch und Blitzer im Loft …
… ja aber das Koks von denen sollte jeder zu Hause in seinem Quick-Labor testen, bevor er es nimmt …
Als der Kaffee immer öfter kalt auf den Tisch kam und die Bedienungen in der kleinen Küche hinterm Tresen häufig erregt miteinander tuschelten, war uns klar, daß sich die Verhältnisse im Mitropa veränderten. Es wurde schwerer zu unterscheiden, ob jemand den heroin-chic nur als angeschminkte, textile Attitüde trug oder wirklich Heroin im Blut hatte. So oder so ein leidiges Thema, selbst für ahnungslos unbeteiligte Gäste, und eine häßliche Geschichte, ein Déjà-vu der zerstörerischen Kräfte für ein gebranntes, noch nicht völlig geheiltes Kind wie mich. Wenn harte Drogen in eine launige Kaffee- und Kifferrunde einsickern, teilt sich der Fluß des Lebens, spalten sich die Gemeinschaften in Befürworter und Gegner – auch hier. Einige der Gäste verabschiedeten sich bis auf weiteres, andere hielten den Anblick der hinterm Tresen wie in Zeitlupe hantierenden Bedienungen aus. Die Krise wurde durch den Verkauf des Lokals an einen Kellner alter Schule und mit neuem Personal zwar vordergründig gelöst, doch mit der unbeschwerten Kaffeehaushockerei war’s erst mal vorbei.
Eine große Zeit – und so schnell vorbei? Ein wichtiger Ort – übers Jahr verloren? Erst im nachhinein wurde uns bewußt, wer alles sich im Mitropa zusammengefunden hatte, wem es von Beginn an als existentielle Anlaufstelle diente. Erst vor kurzem sah ich in der Zeitung das Foto eines Mittvierzigers, laut Unterzeile einer der Mitgründer der ihr zwanzigjähriges Bestehen ansteuernden LOVE -Parade. Sein Gesicht war mir bekannt, sein voller Name und die im dazugehörigen Artikel gefeierte Leistung nicht. Bereits mit sechzehn, siebzehn gehörte der Junge zu den quasi ganztäglichen Stammgästen. Im so ergiebigen Spieljahr ’ 78 /’ 79 hatten plietsche Leute wie er offenbar vom Spirit des Hauses profitiert und aus den hier geführten Diskursen ihre Geschäftsidee von morgen herausgefiltert. Sie nutzten das Lokal als informelle Gründerakademie fürs laufende Pop-Business, in der sich mit idealistischen Bedürfnissen anderer unterderhand die eigenen Taschen füllen ließen – konnte schnell gehen, von der ersten liebgemeinten Tanzveranstaltung auf der Ladefläche des LOVE -Lastwagens bis zum Bau eines zwanzigstöckigen Techno-Towers … So ein Pop-Businessman hatte bei Bekanntwerden seiner einträglichen Aktivitäten jedoch unter Vorwürfen des Pop-Fußvolks zu leiden. Der Paradengründer aus der Zeitung rettete sich in eine neurotische Büßerpose: Er führte nie Bares oder Scheckkarten mit sich, um in jedem Lokal, in jedem Restaurant beim Bezahlen coram publico den immer selben, über mehrere Tische hinweg hörbaren Satz zu verkünden: »Ich habe überhaupt kein Geld.«
Wenn ich ein Vierteljahrhundert
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