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Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Titel: Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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wäre das reale Bild jugendstilig nachkoloriert, während die Gesichter anderer, eher unwillkommener Anwesender sich entstellt zeigten. Für die lag im Blick selbst bereits eine Bestrafung, die todsichere Ablehnung – durch Verhäßlichung mittels Glubschaugen und Horror-Visagen, oder wenigstens baconsche Verzerrungen. Mit dieser Optik, in der etwas schlichten, fast kindlichen Trennung des Weltpersonals in Gut und Böse, konnte Acid für den Augenblick als eine Art Wahrheitsserum durchgehen. Die Säure entzog dem Hirn viel Zucker, das schwächte ein unterernährtes Ich so, daß es das Interesse an räumlich-zeitlichen Bezügen und den dazu passenden alltäglichen Denkmustern verlor. Auf Trip gehen hieß ja im allgemeinen, ja, was bloß, Kaleidoskopbilder kucken, nutzlose Ornamente, delirirende Muster sehn – also bestenfalls einen Netzhautorgasmus erleben. Auf Trip gehn … den schönen Tee der Verlangsamung nehmen, erleuchtet aus dem Fenster auf die Straße sehn, die Hirnbonbons mit violett-grüner Sahnefüllung lutschen … und so jede Art von Diskussion umgehn – die nonverbale Revolution, schrieb jemand im Spiegel. Mancher Acidhead rief auch das Fernmeldeamt an und wollte Gott sprechen, buchstabieren Sie bitte: Ge-O-Tee-Tee – okay, worum geht’s bitte: Die Zeiten sind revolutionär, sagte der angetörnte Dichter, aber Frieden durch Gott ist möglich. Psychedelisch bedeutete bewußtseinoffenbarend. Aber was offenbarte das Bewußtsein?
     
    Bei uns beiden die allerschönste Verliebtheit, ein seit der Mondlandung über lange Monate andauernder honeymoon – das führte zur permanenten Verherrlichung der bloßen Existenz, die sich jederzeit ins Bett verlegen ließ. Neben den stark gedehnten Nächten verlebte Régine die meiste Zeit dort. Nachmittags, auf ’nen Sprung vorbeigekommen, legte ich mich im Mantel für ’n paar Minuten dazu. So ein Glitzerpaar kam anfangs überhaupt nicht voneinander los – schon gar nicht unter LSD . Eine ungekannte Intensität bannte uns, bei jeder Regung, jeder Bewegung, jeder Empfindung – eine gefühlsverstärkende Substanz mischte unser Blut auf, reine Euphorie folgte, das Einssein zu zweit, ein Fleisch und eine Seele, ein barbarellahafter Dauerorgasmus, drei, fünf, sieben oder neun Freudenausbrüche, alles eine Frage der geflüsterten Zählweise … 48 Stunden lang … Die unglaubliche Wirkung potenzierte jede Emotion, auch in der Passivität, beim tantrischen Innehalten. Auf einem der schönsten Trips schritten wir in Bettlaken gehüllt, als Römer und Römerin durch unsere geräumige Altbauwohnung … mein Beruf war der eines Architekten, eines visionären Baumeisters der Antike, der traumhafte Badelandschaften fürs Volk ersann und baute. Es waren künstliche Paradiese, klar, aber eben doch Paradiese.
     
    Und wie sah die Realität aus, wenn das Acid-Wochenende vorbei war? Montags renovierte ich Tanzschuppen, motzte die Kaisersäle und den Fürstenhof für ihre altmodischen, alten Besitzer durch oberflächliche Psychedelik auf … mit den schon in die Jahre gekommenen Erfindungen unserer früher glanzvollen, längst hoffnungslos zerstrittenen Tüftlergruppe, den Stroboskopen und anderen Lichtern, eine inzwischen entschärfte, kosmetisch verwendete Elektronik. Mein kleiner Betrieb illuminierte Geburtstagspartys von Frau Döhnhoff oder einer Frau Henschel, der Lackfabrikantin mit dem Papagei auf der Dose, von jemandem in Form meiner Person wurden verachtungswürdig dumme PR -Happenings organisiert – von mir also, einem gegen den drohenden Untergang ankämpfenden, bekannt-begehrten Kreativen aus dem sogenannten Underground. Bloß welchem? Aus dem, der 1967 im schwarzen Sarg durch San Francisco zu Grabe getragen wurde? Aus dem, der im Jahr darauf in der Essener Gruga-Halle nur eine Nacht lang riesig blühte wie die Raffles-Blume im asiatischen Dschungel? Aus dem, der sich in tausend Nischen vor der sogenannten gesellschaftlichen Realität versteckte? Wir kommen aus dem Untergrund, sang einer, die Leute sagen: ungesund. Vorbei, vorbei, drei, vier Jahre war’s gelaufen, und nach ebenso langer Nachanalyse hatte sich die Sache erledigt. Nur wohin konnten die Untergrundler nach unvollendeter Mission verschwinden? Welche schmerzlichen Verlustgefühle würde ein Abschied nach sich ziehen?
    Oder ließe sich das kulturrevolutionäre Programm doch dauerhaft mit der psychedelischen Lebensweise verschmelzen? Jaja, als Yippie, gereift und im Rückzug aufs Land …

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