Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire
Geliebte. Zu groß die Ähnlichkeit mit einer früheren Freundin, die mir beängstigend klar vor Augen stand, als würde sie in neuer Form noch einmal auf mich zukommen – als wieder gestellte Aufgabe, als Mysterium oder auch Prüfung meiner doch hoffentlich gewachsenen Bindungsfähigkeit, meines Zartgefühls. Sie erinnerte mich an Régine, an deren Wohnort Hamburg, an die dort gemeinsam verbrachte Zeit in den späten Sechzigern und Anfang der siebziger Jahre.
Nach dem Ende ihrer Anspannung ließ Ella ihren Oberkörper vorsichtig auf mich niedersinken, schaute auf den steifen, roten Fuß hinter ihrem Rücken und sagte lachend: Ist ja gutgegangen. Es war tatsächlich gutgegangen. Offenbar gehörte auch Ella zu den Frauen, die in der Öffentlichkeit von vielen kleinen Unsicherheiten geplagt werden, im Bett aber zu vollkommener und traumhafter Sicherheit finden.
Ob es sich in unserem Falle um eine langsam entstehende Beziehung handeln könnte? Nein, antwortete sie sich selbst. Sie müßte erst viele Dinge in Ordnung bringen, ihr ginge es einfach zu schlecht, um eine Beziehung einzugehen.
Aber morgen, hatte sie beim Abschied gesagt, morgen sehen wir uns doch wieder, ja?
S oweit ich mich später an diesen Tag erinnerte, war ich kurz vor den Elbbrücken und der dort beginnenden Autobahn einer spontanen Regung gefolgt und hatte vor einer Telefonzelle am Straßenrand angehalten – ein letzter Anruf bei ihr, so der Gedanke, ein paar Worte zum Abschied, damit sie weiß, daß ich diese Stadt für immer verlasse. Als gäbe es für die längst gefallene Entscheidung doch noch Bedenkzeit, blieb ich eine Weile im Auto sitzen und kuckte auf die bepackten Rücksitze, auf Koffer, Taschen und Klamotten, nicht mehr Zeugs als vor Jahren beim Ankommen. Hier an den Elbbrücken begann oder endete Hamburg, hier setzte das Hamburg-Gefühl voll ein oder langsam aus, hier stand ich vor derselben Telefonzelle, von der aus ich ihr nach tagelanger Abwesenheit und stundenlanger Autofahrt vor Vorfreude schon halb erigiert meine Heimkehr ›in zwanzig Minuten ab jetzt‹ angekündigt hatte – in den guten Zeiten mit Régine. Schwer zu sagen, wie lange wir schon getrennt waren – wahrscheinlich hatte jeder einen eigenen, wohl Jahre zurückliegenden Schlußpunkt. Seit Monaten ohne jeglichen Kontakt, gab es keinen konkreten Grund für den Anruf, für ein letztes, unsere Liebesgeschichte womöglich zur Legende überhöhendes Good bye im Moment des unwiderruflichen Verschwindens von hier. Ich rief trotzdem an.
Es dauerte fast zwei Minuten, bis sie abnahm und ein kraftloses Ja eher hauchte als sagte.
Ich bin’s.
Ja –.
Auch das ein aus dem Dämmer kommendes, leicht gequältes Ja, als fände sie unter allen möglichen Ich-Anrufern nicht gleich den richtigen heraus. Nicht neu, dieser Ton, die enormen Pausen, mit denen sie die Gespräche verlangsamte, sie fast zum Verstummen brachte. Sie hatte ihre Gründe dafür – schwer betrunken, wollte sie möglichst vermeiden, daß dies denen auffiel, die es ohnehin vermuteten. Das Leben schien einmal mehr stärker als meine Régine. Die Frau, die mich zum Mann hochgeliebt hatte, soff also wieder, was auch mir Probleme machte.
Es ist drei Uhr, die Sonne scheint, ich steh kurz vor der Autobahn und wollte …
Ja, ja – ich weiß.
Sie lag im Bett, keine Frage. Auch in guten Zeiten hatte sie gern ganze Tage im Bett verbracht, dabei stets die Welt im Blick, im winzigen Schwarzweiß-Bild, einmal zu später Stunde auch den Mond. Damals rutschten zehn aufgeregte Leute auf ihrem Bett herum, weil davor der einzige Fernseher der Wohngemeinschaft stand. Alle strahlten den grauen Bildschirm an und sahen die ersten Männer auf dem Mond, eine ganze Nacht lang Mondlandung im tragbaren LöweOpta TV – am Morgen danach lag ich mit geschlossenen Augen auf Régines Monroe-Busen … Ein großer Schritt für einen gerade mal Volljährigen, einen Ahnungslosen im Bett, der in jener aufwühlenden Nacht das Glück hatte, von der erhöhten amourösen Anziehungskraft des Himmelskörpers zu profitieren.
Du, ich wollte dir etwas sagen.
Ja …, … ja.
Geht’s denn?
Ja –.
Aber du hörst dich … irgendwie, ich weiß nicht …
Ja, Moment – warte, gleich … ja?
Ein kleines Ja, das sie mir da anbot, ein Ja von flachster Gleichgültigkeit. Seit über einem Jahr trank sie wieder. Wobei ihre neuerliche Trunksucht keine Folge unserer Trennungsproblematik war, frischere Enttäuschung mußte von
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