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Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Titel: Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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bei Konzerten von Müttern vollgeweinten Original-Taschentücher … Tja, das sollte man schon gesehen haben, sehr witzig, frühe concept art. War Kunst nicht oft genau das, was man selbst gern gemacht hätte? Mein lieber Dieter, hatte ich mit gemischten Gefühlen gesagt, das ist der Durchbruch, in aller Kürze wirst du dein Heintje-Museum mit dem Besen fürs zdf heute journal fernsehgerecht ausfegen und in ein paar Jahren an einer Kunsthochschule deiner Wahl Professor sein. Sogar an der Akademie in Düsseldorf, wie es dann auch geschah …
     
    Wie schwer mir doch der Abschied fiel – geh ich für immer, oder geh ich bloß für jetzt … Ach Blödsinn, die Bleiben-oder-nicht-Frage war doch längst beantwortet. Die große Krise, die Krise mit dreißig, einunddreißig … ein Knackpunkt das Geld, Scheißgeld … gehörte das nicht am besten abgeschafft wie bei Pol Pot oder im Club Méditerranée? Régine wollte es bürgerlich verwenden, sie war von Hause aus bürgerlich und hätte wie viele hanseatische Ladies in den besseren Vierteln ihr Leben endlos leben können, den richtigen Anschaffer glaubte sie ja bereits in betto zu haben, den gut gefüllten Kleiderschrank sowieso. Es brauchte eine Weile, bis mir das Berechnende ihrer Handlungen dämmerte und die Zweifel gleich in Scharen kamen – sogar mit dem Erschrecken vor mir selbst, als ich einmal mit meinem dicken Volvo lässig und blicklos an ihr vorbeifuhr, während sie zwei volle Einkaufstaschen in Richtung unserer noch kilometerweit entfernten, damaligen Wohnung schleppte – zweifellos der Anfang meines Abschlaffens. Sie hatte keinen Beruf, kein Studium, nichts … sie war Verkäuferin … in einem Schuhgeschäft, für achtzig Francs Salaire die Woche, doch sie liebt mich für viele Millionen wert … Warum kam mir dies olle Chanson aus der Kindheit immer wieder einmal in den Kopf … ?
    In unserer Zeit mußte sie jedenfalls nicht mehr in Boutiquen jobben, ihr gefiel’s so, mir anfänglich auch, später aber weniger. Furchtbare Diskussionen, Küchendramen standen dann auf dem Programm – die Beziehung litte unter einem Ungleichgewicht, sagte ich ihr viele Male, das müsse sich ändern, spätestens im neuen Jahr. Anstatt den ganzen Tag mit ihrer mystisch angehauchten Freundin Edith das Tarot zu legen, anstatt als falsche Undergroundqueen auf meine abendliche Rückkehr zu warten, sollte sie etwas Eigenes machen, oder wenigstens irgend etwas tun, arbeiten eben, um auf eigenen Füßen zu stehen, selbständig, emanzipiert zu werden …
     
    … anstatt dauernd auf der Kartenlegerei herumzuhacken, anstatt mich in die dümmliche, esoterische Ecke zu stellen, solltest du dir die Wahrsagerei lieber zunutze machen!
    Allen Ernstes hatte Régine angeboten, einen bei ihr öfter anschleichenden Astrologen anzusprechen, Spezialist für geschäftliche Kommunikation … der könne aus der Konstellation der Sterne das Datum der Tage errechnen, an denen die Erfolgschancen für Verhandlungen und Verkäufe außergewöhnlich hoch stünden, ja, eigentlich garantiert seien. Eine großartige Unterstützung, vielen Dank … solange dieser Sternendeuter nicht am Gewinn beteiligt werden wollte … doch anstelle der Tarotliteratur solle sie lieber Charles Fourier lesen … beide Geschlechter sind für alles geeignet, für Wissenschaft, für Kunst …
     
    Damals dachte ich, daß Régine höchstwahrscheinlich schon als Ehefrau zur Welt gekommen war. Die Ansprüche, sich in Richtung Eigenständigkeit zu verändern, überforderten sie jedenfalls. Jahrgang ’ 37 oder ’ 38 , zu alt, um auf den Rebellenzug noch aufzuspringen. Die Antwort waren Tränen, Tränen, Tränen, ihr Auszug aus der Wohnung, ihr nochmaliger Einzug, von mir vorher – im wahrsten Sinne des Wortes – erkniet, der erneute Auszug, wonach die zäh verlaufenden, unglaubwürdigen Versuche einer Trennung begannen, die alle paar Wochen nächteweise aufgehoben wurde …
     
    Am Ende half auch ein guter Tropfen Acid nicht mehr weiter, kein Strahlenkranz zu sehen, der das geliebte Gesicht rahmte, keine sich fortsetzende Verschmelzung einte uns aufs neue – diese nunmehr freischwebenden, kollidierenden Ichs, die zum Spielball scheinbar fremder Mächte wurden und einen Horrortrip mit Bildern erlebten, denen Farben und Worte entzogen waren wie der Zucker dem Hirn. Wo lag der Umschlagspunkt der Liebe? Wann legte wer warum den Rückwärtsgang ein? In Schwarzweiß blieben mir die Szenen im Gedächtnis, eine quälende Erinnerung –

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