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Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Titel: Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Sackgassen führenden Routen wählte – sie lebte erst seit ein paar Jahren in der Stadt. Da vorn kommst du nicht durch, mahnte ich an verwirrend ausgeschilderten Stellen; worauf sie antwortete, du wirst von jetzt an schweigen, worauf ich sagte, das geht nicht, wenn mein Leben in Gefahr ist; worauf sie in vollem Ernst erwiderte: schweigen oder aussteigen.
     
    Zu unserer ersten gemeinsamen Einladung brauchte ich lediglich hundert Meter zu humpeln – Ellas sogenannte beste Freundin wohnte in meiner Nachbarschaft und erwartete ein Dutzend Gäste zum Geburtstagsessen. Daß es mir nicht immer gelänge, solch länglichen Tischgesellschaften viel abzugewinnen, hatte ich vorausgeschickt, um dann tatsächlich, tief über die Suppe gebeugt, mir wenig sagende Meinungen zu den Themenblöcken »reich – arm«, »G 8 – Kneipe Kumpelnest« und »Klimakatastrophe – Gandhi« anhören zu müssen. Eine junge, sich selbst als Designerin bezeichnende Frau berichtete von ihrem Besuch beim Deutschen Trendtag, einem in der Runde offenbar nur mir bekannten Jahrestreffen von Zukunftsforschern, bei dem heuer der Karma-Kapitalismus zur Gesellschaftsform der Gegenwart ausgerufen worden sei.
    Verstehe, sagte ich, wer nicht anständig konsumiert, wird von der Seelenwanderung ausgeschlossen und kriegt im nächsten Leben nix zu beißen – oder wie?
    Nein, viel komplizierter, erklärte sie, eine aus buddhistisch-hinduistischen Lehren zusammengesetzte Haltung aus Nachsicht, Nachhaltigkeit, Askese, Selbstkontrolle, Enthaltsamkeit, Entsagung …
    … Da bleibt für den Groß- und Einzelhandel nur zu hoffen, daß sich der neue Karma-Kapitalismus nicht allzuweit herumspricht …
    … alles Handeln hat ja Folgen, schlechtes Karma, gutes Karma …
    … besser gar kein Karma …
    … da steckt schon ein Paradigmenwechsel dahinter – der relationierte Verzicht wird zum Umsatzmotor, weg vom Falschen, hin zum Richtigen … auch im Sinne einer ethischen Forderung … eines ›Gib das, was du selbst nicht bekommen hast‹, sagte sie, die Folgen sind erkannt, aus dem vollkrassen Umdenken heraus entsteht der Karma-Kapitalismus.
    Sprechen Sie ruhig so lange weiter, bis ich’s verstanden hab.
     
    Bei Verzicht fällt mir eine Story über Gandhi ein, sagte kurz darauf mein thematisch angeregter Tischnachbar – auf Zucker verzichten zum Beispiel. Eines Tages habe sich eine Mutter an Gandhi gewendet, mein Sohn ißt zuviel Zucker, wie kann ich ihm das abgewöhnen? Kommen Sie in vierzehn Tagen wieder, sagt der Asket und empfahl nach Ablauf dieser Frist ein Zuckerverbot für den Sohn. Warum haben Sie das Verbot denn nicht sofort ausgesprochen, fragt die Mutter. Weil ich erst einmal selbst vierzehn Tage lang keinen Zucker essen wollte, so Gandhi, und jetzt weiß ich, es geht.
     
    Ja, Gandhi kannte die magere Seite der Existenz, sagte ich und schwenkte den Arm über die gut gefüllten Schüsseln und Teller auf dem Tisch, an dem eine Reihe von Gästen saß, die ich bereit war, allesamt über Nacht zu vergessen. Ella wechselte für kurze Gespräche von Platz zu Platz, übertönte das Parlando der Runde mitunter mit lautem, leicht schrillem Auflachen. Als ihr neuer Freund vermutlich auch auf dem Prüfstand, begann ich – ganz kommunikativ – eine andere Gandhi-Geschichte und nahm an, damit auf so einer Dinnerparty nicht ganz schiefzuliegen.
     
    Dieser Gandhi, erzählte ich, hat das Wohlleben und seine junge Gattin im Alter von 28 Jahren verlassen, weil er glaubte, durch Verzicht und sexuelle Enthaltsamkeit Indiens Unabhängigkeit zu erreichen … mit seiner so aufgesparten Libido die nötige Energie zu gewinnen, um die Engländer schließlich aus seinem Land herauszudrücken … Noch Jahrzehnte später hielt er daran fest, legte sich jedoch eines Nachts mit seinen 15 jährigen Nichten ins Bett, um sich zu beweisen, daß er gegen ihre wie jegliche Reize immun sei – allerdings soll Gandhi dann am anderen Morgen über seine Körperfunktionen ziemlich verärgert gewesen sein …
    Hier und heute käme er dafür in den Knast, sagte einer.
    Und Ella, die das Ende der Geschichte mitgehört hatte, reagierte mit einem Schreianfall:
    Was erzählst du hier, ein Mittsechziger schläft mit zwei Teenagern!
    Eben nicht … er teilte nur das Bett mit ihnen, sagte ich und wollte Ellas Furor bremsen – es war eine Art Selbstversuch –
    – ein Selbstversuch mit zwei fünfzehnjährigen Mädchen –
    – Er hat sich die ganze Nacht lang nicht bewegt und kein Auge zugetan

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