Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire
auf jedes einzelne Wort achten. Abzuraten war von Erzählungen eigener, aus rohen Zeiten erinnerter Erlebnisse, die sich in Ellas Ohren als unbewußt selbstdarstellerische Angebereien entpuppen oder als warnende Umschreibungen eines womöglich auch heute noch von mir zu erwartenden Verhaltens Druck ausüben könnten. Ebenso abzuraten war von blauäugig eingeflochtenen Bemerkungen über frühere Freundinnen … In einer Unterhaltung über Filme hatte ich – um besondere Kenntnisse anzudeuten – meine Ex Simone erwähnt, die eine einst von mir in zig Gesprächen quasi mitgegründete Casting-Agentur betrieb und die sie bald mehr geliebt hatte als mich, so daß wir uns nach vier schönen gemeinsamen Jahren im gegenseitigen Einvernehmen trennten … eine meiner gelungensten Trennungen, wie ich dummerweise nachschob. Allein diese Formulierung löste bei Ella eine Welle von Vorwürfen aus, die kurze Geschichte berührte gleich mehrere ihrer wunden Punkte. Gefährlich auch der nur anerzählte Klatsch über Stammgäste aus dem Fler, wie die eines Abends ganz arglos erzählte Story von Detlef, der die Eingangstür des Cafés von innen in der Hand hatte, während von außen eine junge Polin kräftig daran zog und bald mit ihm abzog … Eine an sich niedliche Geschichte, die etwas darunter litt, daß die Frau dreißig Jahre jünger war als er, ein frühpensionierter Endfünfziger, der ansonsten verbal eher mit Figuren des Dritten Reichs poussierte – eine mit großer Lautstärke und dauererigiertem Zeigefinger durchgezogene Idiotie, die ihn als Neo-Kon im Fler weitgehend isolierte. Dreißig Jahre jünger, regte Ella sich auf – einer deiner perversen Freunde … Wir sind Altersgenossen und darüber hinaus nichts, nichts, nichts, beteuerte ich – er ist mehr mit mir bekannt als ich mit ihm. Solche Café-Fler-Interna konnten einen ganzen Abend mit Ella ruinieren … wie, warum und unter welch situativer Anspannung auch immer erzählt. Mein Gott, hatte ich auf ihre Kritik geantwortet, vielleicht zahlt er ihr ja das Studium. Worauf Ella sich auf der Couch krümmte – solche Geschichten schlügen ihr sofort auf den Magen, sagte sie und ließ mich allein zurück mit meiner im späten Fernsehlicht fahl verflackernden Begierde.
Ebenso abzuraten war von Erzählungen aus der Tagespolitik, von Exkursen über Pharma- und Finanzwelt – manches Mal hatte ein Mann ja nichts anderes parat, um die Zeit bis zum ersten ermutigenden Seufzer der Frau zu überbrücken. Bei Ella führten die meisten Tagesthemen allerdings zu heftigsten Ausfällen. Sie reagierte ständig wie im Affekt und konnte zur jeweiligen Sache kaum etwas Zusammenhängendes, Genaueres sagen, weil ihr Gefühl offenbar schneller über sie kam als ihre Vernunft. Simple Klischees der Empörung und Verachtung wie ›die Welt ist ungerecht‹ und ›alle Politiker sind Verbrecher‹ wurden von ihr so oft und wenig variiert wiederholt, bis der anfänglich angesprochene Vorfall unkenntlich und meist allein meine eher unbeteiligte Person als Kritikpunkt übriggeblieben war. Möglich auch, daß sie nichts zusammenhängend Genaueres über die jeweilige Sache wußte und deshalb lieber ihren Gefühlen freien Lauf ließ. Jedenfalls schien sie über mehr Testosteron zu verfügen als ich, der an manchen Abenden eine ruhige Kugel schieben wollte und von ihrem Programmwunschgestichel so lange gepiesackt wurde, bis ein unbedachtes Wort oder die Erwähnung einer ihr unliebsamen Person zum sofortigen Kippen der Stimmung führte. Allein die von mir gebrauchten Worte ›man‹ oder ›Mann‹ konnten nach kurzer Zeit inkubativen Rumorens einen ihrer länger andauernden Gefühlsausbrüche bewirken, der in seiner negativen Logik nur schwer ergründbar und noch schwerer zu befrieden war.
So geriet ich bereits nach wenigen Wochen mit Ella in einen schizzoiden Zustand, den einer mir nur allzugut bekannten Zerrissenheit. Mit einigen Charakterzügen, mit ihren ständigen Aggressionen, den zerstörerischen Übertreibungen und der von ihr stets einschüchternd eingesetzten, hochmütigen Zerbrechlichkeit war ich überhaupt nicht einverstanden, mit ihrer körperlichen Präsenz dagegen um so mehr.
Offenbar belebte mich dieser Widerspruch, der ständige Knatsch.
Die Nacht wieder schön, zarte Blutspuren.
I n der Nacht vor der seit Jahren fälligen und selbst zuletzt immer wieder aufgeschobenen Reise nach Erfurt hatte mich ein verstörender Traum aus dem Schlaf geschreckt; ab Mitte
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