Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire
Fünfzig, so mein Eindruck, werden Träume seltener, doch packender. Die sofort aufkommende Frage, ob ein unterbewußter Zusammenhang dieses Traums mit dem Zweck der bevorstehenden Reise bestehen könnte, bereitete mir nachts um drei einiges Kopfzerbrechen. Womöglich spielte die am frühen Abend im Café passierte Begegnung mit einem von mir stets ironisch als »mein Psychotherapeut« bezeichneten Bekannten eine auslösende Rolle … Dieser ansonsten wenig gefragte Therapeut brachte noch im kürzesten Gespräch seine berufsspezifischen Begriffe wie »Opfer«, »Libido«, »Geständniszwang« oder einfach bloß »Narziß« unter, was mir nach fast jedem unserer sporadischen Treffen prompt einen Traum bescherte, zuverlässig wie ein Abo. In dem der vergangenen Nacht saß ich zunächst mit Ella in einem Ku’dammcafé, war dann merkwürdigerweise in die Toilette eines Lokals auf der gegenüberliegenden Straßenseite gegangen, um sie bei der traumzeitlupenhaft verzögerten Rückkehr gerade noch beim Verlassen des von uns besuchten Cafés zu sehen. Leicht panisch lief ich hinter ihr her, bis mir ein Gast zurief, die davoneilende Frau wäre nicht meine Freundin, das sei vielmehr die Püppi – sie wendete sich beim Gehen kurz um, tatsächlich eine blond gelockte Fremde, die Püppi. Soweit die Sequenzen des Traums, das Ganze in gewohnter Spielfilmqualität.
Erst nach einigen Minuten des Wachseins klarten weitere Bilder des Traums auf, seine Anfangssequenz als offenbar wesentlicher Teil der Püppi-Story wurde nachgeschoben. Wie gefällt dir denn dein neuer Wohnungsvermieter, hatte ich demzufolge meine Begleiterin, zweifelsfrei Ella, gefragt, als wir noch vor meinem Toilettengang am Cafétisch saßen. Wobei sich per Bildeinblendung herausstellte, daß es sich bei diesem Vermieter um einen meiner Jugendfreunde handelte, einen Jungen gleichen Vornamens wie ich, daher unterscheidend der Große genannt. Er war tatsächlich einen Kopf größer und sein Schwanz, wie mir selbst halb verschlafen sofort einfiel, war ebenfalls ein gutes Stück größer als meiner. Der gefällt mir gut, antwortete Ella erschreckend knapp wie leise. So sah ich ihn wieder, den Großen, einen Athleten, seltsam vernarrt in das traditionelle Polizistenspiel Faustball. Für das Seelchen in unserer Intuspuppe gibt’s keinen Schlußstrich, dachte ich – die angesammelten Kränkungen werden jahrzehntelang unter Verschluß gehalten, bis so ein Ding über Nacht hochkommt wie eine Warze auf die Haut. Schwer erklärlich, warum überhaupt, und warum jetzt, wo schon die geträumte, zu späte Rückkehr vom Toilettengang auf ein real existierendes, aktuelles Gesundheitsproblem verwies, dessen Auftauchen ebenfalls als Kränkung empfunden und hier nebenbei mit verarbeitet wurde. Das Verwirrendste jedoch war dieses Unwort Püppi, ein im naiven Macho-Ton der fünfziger Jahre verwendeter Kosename, von mir niemals ausgesprochen, nicht einmal gedacht, und doch im Vokabelschatz enthalten. Was verbarg sich dahinter?
Meine amateurhaft freudverkürzende Traumdeutung basierte auf der Wunsch-Angst-Achse als Auslöser. Das funktionierte einigermaßen. Wenn weder eine Wunschvorstellung noch eine Befürchtung als richtunggebende Erklärungsmuster halfen, hieß es spekulieren und den geheimnisvollen Traumrest bis auf weiteres stehenlassen oder kapitulieren und vergessen – um das Thema Kastrationsängste sollte nicht nur in dem Fall ein Bogen gemacht werden. Meistens bereitete es mir Vergnügen, die eigenen Träume zu analysieren oder die mir verbundener Frauen, auch jene von Ella, die mit vollem und langem Namen Elisabeth Maria Magda hieß und meine Deutungen eher beargwöhnte. So auch die des Ku’-damm-Traums, mit dem ich mich schließlich abfand – trotz der durch die Figur Püppi verkörperten Sorge, daß meine eigene Verweiblichung überhandnehmen könnte. Doch solange sich das Unterbewußtsein von der Verlustangst um die mitten im Geschehen verschwindende Ella zu nächtlichen Erzählungen inspirieren ließ, schien die reale Beziehung nach meinem Gefühl stabil zu sein …
Die bis zum Horizont sich hinziehende, grüne Hügellandschaft, der zur rechten Seite überraschend hoch und kompakt ansteigende Thüringer Wald, die Autobahnschilder mit den Stadtnamen Jena, Gera, Apolda – all das hatte ich vorher noch nicht gesehen, eine angenehm touristische Fahrtroute durchs mitteldeutsche Neuland. Das könnte sich auf dem Rückweg ändern, weil wir bei der Gelegenheit
Weitere Kostenlose Bücher