Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire
–
– na toll, ein Asket, rief sie, als Mensch ist dieser Gandhi ja okay, aber als Mann ist er ein Arschloch.
Eine entschiedene Aussage – eine Frau sah Rot, während es um sie herum still wurde. Ansatzweise kannte ich Ellas Hang zu spektakulären Ausbrüchen bereits, doch wer konnte ausgerechnet bei Gandhi mit einer völlig überzogenen Reaktion rechnen. Auch die umsitzenden Geburtstagsgäste mußten diesen Satz erst mal wegsortieren und blickten konsterniert in die Runde. Ella, ob angesoffen oder nicht, hatte für ein schwarzes Party-Loch gesorgt, und es dauerte etliche Augenblicke, ehe die Tischrunde wieder zu einem ihrer Themen zurückfand. Aus Verärgerung ging ich zum Rauchen auf den Balkon. Durch dessen offenstehende Tür war dann zu hören, daß am Kopfende der Tafel wieder über Kneipen gesprochen wurde … Über das Kumpelnest, diesen Alptraum einer einstigen Aufreißkneipe in Tiergarten, vor drei Jahrzehnten von Gehörlosen für den Eigenbedarf gegründet und mittlerweile ein dankbares Berliner Dinner-Thema für Leute, die sich einmal auf der wilden Seite des Nachtlebens befunden zu haben glauben, nur weil sie dort auf die nächste Entblößung von gut gemachten Transentitten oder den ins Nichts führenden Kuß einer Momente danach lospöbelnden Suffragette gehofft haben. So eine seit den 80 ern die 70 er parodierende Kneipe muß man schon wieder gut finden, dachte ich, wenn die Verruchtheit im Sterben liegt … Und Ella, eben noch mit dem fragenden Gesichtsausdruck einer Darstellerin, die eine Probe verpatzt hatte und auf Wiederholung der Szene hoffte, rief mit einmal mehr großer, draußen auf dem Balkon hörbarer Begeisterung … Oh ja … ich liebe das Kumpelnest – auch das zu meiner Überraschung.
Dieser erste gemeinsam unter Leuten verbrachte Abend bot einen unverstellten Eindruck davon, wie Ella sich in Gesellschaft geben mochte. Weiteres war über sie bei diesem Essen nicht zu erfahren. Auch das Gespräch mit dem knapp 50 jährigen Geburtstagskind verlief, was Ella betraf, eher zurückhaltend. Die zwei Frauen hatten vor Jahren kurze Zeit zusammen gewohnt, die Freundin beließ es bei knappen Antworten auf meine harmlosen Fragen. Vermutlich hielt sie sich zurück, weil sie nicht wußte, wieviel ich bereits über die Vergangenheit meiner neuen Freundin wußte, vielleicht auch, weil sie überdies wußte, daß sich Ella mit Erzählungen aus ihrem früheren Leben zurückhaltend gab. Was überhaupt ließ sich zu diesem Zeitpunkt über Ella sagen? Daß sie, um Aufmerksamkeit zu bekommen, bereit war, unüberlegt auch peinliche Akzente zu setzen, daß sie im Blochschen Sinne nicht ganz dicht zu sein schien und durchaus ins Imaginäre entweichen konnte, wenn die reale Welt ihr für die Selbstdarstellung nicht ausreichte. Und daß sie, wie Paul es umschrieb, womöglich zu wenig auf der Festplatte hatte, und selbst ein begrenztes Allgemeinwissen nur bedingt abrufen konnte. Wollte jemand am Tisch noch einen zweiten oder dritten klaren Satz zu einem Thema hören, wirkte Ella überfordert und reagierte mit meist aggressiven, von Gefühlswallungen vorangetriebenen Wortschwallen – zu meinem wachsenden Unbehagen, versteht sich.
Gesellschaft, ein kleines Publikum zu haben, versetzt sie offenbar in jederzeit widerspruchsbereite Anspannung, hatte ich Leiser anderntags am Telefon erklärt und ihm von Ellas plötzlichen Stimmungswandeln erzählt, ihrem Hin- und Hergerissensein … gestern eine besorgte Quasi-Ehefrau, heute popfrohe Madonna mobilé, die auf Schönebergs Straßen mit den Bremsspuren ihres Uralt-Golfs abstrakte Bilder malt … um sich morgen wieder abzukapseln, voller Befürchtungen und dem Hang zu schwerer Lektüre … alles von Gertrude Stein, Clarice Lispector, A. L. Kennedy, eine gute Schule für ihre Empfindungen männlicher Ungereimtheiten … Allesamt tolle Autorinnen, wie auch Leiser meinte, nicht ohne mich an seine schon Jahre zurückliegende Empfehlung dieser A. L. Kennedy zu erinnern – wobei ich damals nur darüber gemeckert hätte darüber, daß die Frau auf den Buchcovern ihre Vornamen und damit ihr Geschlecht nicht verraten wollte …
Aber schön, daß deine neue Freundin diese Sachen liest, hatte Leiser schließlich gesagt – das ist doch vielversprechend.
Wobei ich nicht in jedem Fall wüßte, was ich dazu sagen soll.
Tja, wenn dir die Argumente ausgehen, bist du alt.
Wenn wir allein waren, mußte ich wie ein sich selbst zensierender Schriftsteller
Weitere Kostenlose Bücher