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Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Titel: Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Kartenlage eindeutige, unanzweifelbare Angelegenheit, hätte die Wahrsagerin erklärt.
     
    Wie idiotisch, sagte ich, woher wollte die Frau das denn wissen?
    In Kriegszeiten sind die Leute noch abergläubischer als sonst.
     
    Offenbar war bei der Kartenlegerei jeden Tag das gleiche herausgekommen, so daß sich die Stimmung der soeben erst Niedergekommenen zunehmend verdüsterte. Frau Richter hatte immer wieder versucht, ihr die wahrgesagten Betrugsgeschichten auszureden, an ihre Vernunft zu appellieren und der Verzweifelten Trost zu spenden. Nach einigen Tagen kam ihr die, wie sie glaubte, vor weiterem Kummer bewahrende Idee eines Lehrstücks, das die Wahrsagerin auf die Probe stellen und ihre Glaubwürdigkeit schwer erschüttern, wenn nicht zerstören sollte. Sie begleitete meine Mutter auf dem morgendlichen Weg zum Orakel, nahm ihren Ehering ab und ließ auch für sich ein Tarot legen – über das Schicksal ihres angeblich kriegsverschollenen, von ihr herbeigesehnten Verlobten.
     
    Machen Sie sich keine Sorgen, hätte die Wahrsagerin verlauten lassen, ihr Verlobter käme in nicht allzu langer Zeit unversehrt heim und alles würde gut.
     
    Na, Sie haben ja Einfälle, sagte ich.
    Aber diese Bloßstellung änderte für Ihre Mutter gar nichts, sagte Frau Richter, sie glaubte der Wahrsagerin weiterhin, obwohl sie meinen bereits seit Monaten zurückgekehrten, beinamputierten Ehemann noch Minuten vorher auf dem Hof gesehen hatte.
     
    Die Folgen dieses, wie Frau Richter es nannte, Irrglaubens waren verheerend. Zunächst hatte ich ihr noch distanziert zugehört, als erzählte sie eine dieser interessanten Geschichten aus Kriegszeiten, von denen es so unendlich viele gibt – meine gelegentlichen Zwischenfragen hörten sich an wie die eines an einer Story arbeitenden Reporters. Doch je länger die Erzählung dauerte, desto mehr verdeutlichten sich die mir bisher nur grob bekannten Abläufe. Meine Version der eigenen Geschichte war offensichtlich falsch. Bis zu diesem Nachmittag hatte ich angenommen, mindestens acht bis zehn Monate in Erfurt verbracht zu haben, bevor sich die Eltern trennten. Einer weiteren Annahme zufolge war die Mutter danach mit ihren beiden Töchtern zurück ins heimatliche Elsaß-Lothringen gezogen, was der Vater für sich aus nachkriegspolitischen Gründen als zu riskant ausschließen mußte. Die Junggaullisten, sagte er mir einmal, würden jeden deutschen Rückkehrer schon am Bahnhofsplatz an die Laterne hängen, egal ob – wie er – ohne persönliche Schuld oder mit einer Sündenspur aus den vier Jahren Annektierung und Besatzung. Doch weder von ihm noch von sonstwem war mir erklärt worden, was letztlich zur Trennung der Eheleute geführt hatte. Das gemeinsame Baby wäre jedenfalls danach dem Vater überlassen worden, da die Mutter es nicht auf die gefährliche Zugreise durchs Nachkriegschaos hätte mitnehmen wollen – eine laue, unglaubwürdige Erklärung. Meines Wissens kam es sechs, sieben Jahre später zur Scheidung, gefolgt von Sorgerechtsprozessen, Widersprüchen, neuen Urteilen. Schließlich bekam der Vater das Sorgerecht und dazu noch ein pädagogisches Druckmittel in die Hand. Wenn sein kleiner Junge sich mal daneben benahm, konnte er damit drohen, ihn zur Strafe demnächst zu seiner bösen Mutter zu schicken – ohnehin verfiel er jedesmal wenn es um sie ging, in wüsteste, mir rätselhafte Beschimpfungen. Auf meine Frage, warum er seine Ex-Ehefrau so verteufeln würde, vertröstete er mich: Wenn du älter bist, wirst du’s erfahren.
     
    Möglicherweise wurde sie von ihm tatsächlich betrogen, sagte ich zu Frau Richter, er hat mir mal die Werksbaracken gezeigt, in denen er ’ 44 untergebracht war, dort wohnten auch Frauen, Flüchtlingsfrauen, wer weiß, was nachts in der Baracke …
    … Gott ja, während des Krieges ist da so einiges passiert, sagte sie, das ahnten nicht nur die Wahrsagerinnen …
    … warum nicht, die Liebe in Baracken, diese Baracken gab’s in der Gegend auch später noch überall … Anfang der Fünfziger lebten wir in einer Art Edelbaracke, einem schönen Holzhaus mit gemauertem Fundament am Waldesrand, nicht nur im Werksgebiet, auch übers Dorf verteilt standen weniger schöne Baracken, überall dieselben flachen Holzbaracken, wie nach irgendeiner DIN -Norm hergestellt und aufgereiht, grau oder rostrot bemalte, in sandige Straßen gestellte oder idyllisch im Wald versteckte Baracken, etwas unpassend Lagerartiges für diese naturhafte, bäuerliche Gegend,

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