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Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Titel: Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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klarwurde, daß ich zum ersten Mal bewußt ein Foto meiner leiblichen Mutter betrachtete – in den Familienalben und sonstigen Unterlagen des väterlichen Haushalts war von ihr nichts zu finden gewesen. So also hatte sie noch relativ jung ausgesehen, dachte ich, mochte dieses Foto dann aber doch nicht länger ankucken als die anderen … Oberflächlich war sie mir im Kleinkindalter ja beschrieben worden, als mich der Herr Papa darüber aufgeklärt hatte, daß die mit uns lebende Frau, die sich um mich kümmerte, nicht meine Mutter sei, dagegen wäre eine andere Frau meine Mutter, die sich jedoch nicht um mich kümmern würde. Ein erstes ernstes Gespräch, das ein Vater mit seinem vierjährigen Sohn führte, und eine meiner frühesten Erinnerungen überhaupt: Wie ich als kleiner, dicklicher Mops mit prinzlich langem Lockenhaar auf einer Fußbank saß und nach seiner etwas unsicher herausgebrachten Erklärung minutenlang mit verkniffener Miene vor mich hinstierte, um dann sinngemäß zu sagen, ich würde die hier vorhandene Frau weiterhin Mutter nennen – der Einfachheit halber vermutlich oder aus Gewohnheit. Oder aus frühkindlicher Raffinesse, mit der sich einer seine Stiefmutter gewogen macht, um sie später emotional ausbeuten zu können. Oder eben doch aus Anerkennung, weil diese Frau sich täglich kümmerte. Wie anders dagegen erlebte ich die einzige Begegnung mit der Frau, die mich geboren hat, als Zwölfjähriger in einem Braunschweiger Hotel, anläßlich eines ihrerseits betriebenen Versuchs der Kontaktaufnahme. Aber wer kam da aus der Gummibaumecke des Hotelfoyers auf mich zu getrippelt? Wer legte damals die Arme um mich und wurde von mir reflexartig brav ebenso in die Arme genommen? Bis die Frage hochkam, wem ich eigentlich diese gefühllose Situation verdankte? Weg, bloß raus hier, hatte sich der Sohn in jener Szene gewünscht, diese mir unbekannte Frau als schwer verspätet eintreffende Mutter ging mich nichts an. Da gab’s keinen Sinn für Ähnlichkeiten, keine Zeichen von werweißwoher, keinen erschnupperbaren Geruch, gar nichts Inneres, nur steinerne Bedrückung und das Gefühl, eine halbe Stunde lang den Atem flachhalten zu müssen.
     
    Unser einziges Treffen verlief nahezu sprachlos und vollkommen nutzlos, erzählte ich Frau Richter, schon ewig her, ein halbes Jahrhundert … damals hatte mir mein Vater die Entscheidung überlassen, allein in ihr Hotel zu gehen … sie war sehr verunsichert und ängstlich, wahrscheinlich aus schlechtem Gewissen heraus.
    Schlechtes Gewissen ist schlechtes Wissen, sagte Frau Richter, auch hier war Ihre Mutter zuletzt ziemlich niedergeschlagen, was nach der Geburt nicht besser wurde.
     
    Sie kramte weiter in dem Dutzend Fotos – allesamt aus dem Herbst ’ 44 , zwei oder drei zeigten meine Mutter noch ohne sichtbare Schwangerschaftszeichen. Später, nach der Entbindung, hatten die alten Richters sie nicht länger in der Scheune schlafen lassen und ihr und dem Neugeborenen das eigene Schlafzimmer im Wohnhaus gegeben. Das eigene Schlafzimmer Wildfremden überlassen! Eine geradezu unglaubliche Solidarität, zu der manche Deutsche noch vor sechzig Jahren in der Lage waren … unvorstellbar und im nachhinein noch beschämend für einen durchschnittlichen bundesrepublikanischen Dauer-Egoisten … An dieser Stelle wäre es richtig gewesen, die achtzigjährige Tochter der alten Richters nochmals zu umarmen.
     
    Dabei war sie nicht die einzige Wöchnerin ohne den Kindsvater an ihrer Seite, sagte Frau Richter – mein Ehemann kehrte auch erst viel später aus der Gefangenschaft nach Hause zurück … mit nur noch einem Bein … ja, der Krieg … war schwer für uns …
    Kam mein Vater denn nicht mehr an den Wochenenden?
    Doch, schon. Aber ihre Mutter war trotzdem am Boden zerstört, vor allem dann, wenn sie wie praktisch jeden Tag von der Wahrsagerin zurückkam, der besten Freundin …
    … was wollte sie denn bei der Wahrsagerin?
    Na was? Sich die Karten legen lassen, das Tarot.
    Um etwas über die Zukunft zu erfahren?
    Nein, über die Gegenwart.
    Was war ihr denn nicht klar?
    Sie war beunruhigt, der Mann nun schon seit Monaten 250 Kilometer entfernt, in einer anderen Zone und man weiß ja nie … hier zögerte Frau Richter, bevor sie weitersprach – aber die Karten, die wissen immer was … die Konstellation der Symbole war eindeutig, das Tarot sagte, daß ihr Ehemann dort an seinem Arbeitsort eine andere Frau gefunden hatte, eine Geliebte … eine angesichts der

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