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Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Titel: Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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auch die Hälfte der Gebäude unseres Gymnasiums in der Kreisstadt bestand aus ihnen, Baracka povera für alle, für Fremdarbeiter gebaut und weitergegeben ans Volk, an Flüchtlinge oder Gymnasiasten der Unterstufe, Baracken, in denen alle Dialekte des Landes gesprochen wurden und ein paar ausländische auch – und manchmal standen sie in Flammen, nachts … ein Alptraum, der einen kleinen Jungen noch Wochen danach aus dem Schlaf riß und ihn schreiend durch die Zimmer der eigenen Holzbaracke laufen ließ …
     
    Aber hier sehen Sie und Ihr Vater ganz froh aus, sagte Frau Richter, ein lachender Endvierziger mit dreijährigem Söhnchen an der Hand – auf einem weiteren Schwarzweißbild einer mir selbst längst verlustig gegangenenen Serie – dieses Foto hat er damals hierhergeschickt … wie er uns überhaupt ständig weiter informierte über Ihr aktuelles Gewicht, Ihre wieder um Zentimeter gewachsene Größe und wie’s in der Schule lief.
     
    Ein paar Jahre später heiratete er die Frau, die sich schon länger um uns kümmerte, eine Holländerin, deren Ehemann sich in den wirren Zeiten verdrückt hatte …
    … ja, die Frau … Daniel … ja, Johanna Daniel, der Vater schrieb von ihr … seiner neuen Gattin, Mitte Vierzig, jung und spritzig …
    … als sie heirateten, war ich zehn oder schon elf … die Dorfjungs lasen das Aufgebot der Gemeindeverwaltung und hänselten mich … ey, ey, ey, deine Eltern heiraten … bald darauf wurde er krank und starb vier Jahre später, Herzprobleme.
    Er hat so schöne Briefe geschrieben, sagte Frau Richter und zeigte auf ihren gut gefüllten Bücherschrank – die stecken da irgendwo zwischen den Seiten, ich kann sie bloß nicht finden …
    … Schade, die würd ich gerne lesen – er schrieb unglaublich viele Briefe …
    … Ja, wundervolle Briefe, trotz allem, was er durchmachen mußte, auch mit Ihrer Mutter, damals …
    … die Trennungsgeschichte?
    Ja, im Sommer 1945 , kurz nach Ihrer Geburt … ein Drama war’s. Eines Tages verschwindet Ihre Mutter früh morgens, fährt in dieses Dorf bei Braunschweig, geht zu dem Haus, in dem der Vater mittlerweile ein Zimmer bewohnt und gibt dort das Baby ab … Sie wollte nicht mal auf seine Heimkehr von der Arbeit warten und drückte der Haushälterin das Bündel in die Hand, einen Säugling, keine vier Wochen alt – am Abend war sie dann wieder hier auf dem Hof.
    Das gibt’s doch nicht.
    Morgens hin, mit dem Abendzug zurück, so war’s.
    Davon hör ich zum ersten Mal, sagte ich und mußte mich zusammenreißen, um einen sofort hochschießenden Tränenschub so gerade noch zurückhalten zu können – Wahnsinn, was für ein Wahnsinn.
    Vielleicht wollte Ihr Vater Ihnen die Geschichte ersparen.
    Sie hat mich einfach so abgegeben, vier Wochen alt und weggegeben?
    Sie war völlig durcheinander.
    Wegen des dämlichen Geredes einer Wahrsagerin?
    Einige Tage nach dem Weggeben tat ihr die Sache leid und sie wollte ihr Baby zurückhaben, traute sich aber nicht, dorthin zu fahren … Statt dessen beauftragte sie einen Erfurter Rechtsanwalt, der Anträge stellte, Briefe und Telegramme an Ihren Vater schickte …
    … Und?
    Der Vater hat den beiden was gepfiffen – er hätte sich an den Kleinen gewöhnt und würde ihn nie wieder hergeben, schrieb er, es gäbe genug Hilfe, Kollegen, Familien, Freunde, die tagsüber auf das Baby aufpaßten, und wenn’s für’n paar Stunden die Gemüsehändlerin wäre …
    … ja, die erinnere ich dunkel, eine enorm korpulente Frau mit einem Obst- und Gemüseladen … im Einkaufszentrum des Dorfes, alles Baracken natürlich, ihre kleine Bude füllte sie fast allein aus …
    … als das alles nichts fruchtete, bemühte sich Ihre Mutter auf die Schnelle um einen Gerichtsbeschluß – sie suchte hier nach Leuten, die bezeugen sollten, daß ihr Ehemann ein böser Mann und schlechter Vater wäre …
    … das ist ja unglaublich …
    … auch meine Mutter und ich sollten das schriftlich bestätigen, das haben wir aber nicht getan, so daß sie schließlich das Vorhaben, ihr Baby zurückzuholen, aufgab und kurz darauf mit ihren Töchtern abreiste …
    … auch davon habe ich nichts gewußt, absolut nichts.
    Nie wieder etwas von ihr gehört, sagte Frau Richter und ging in die Küche, um neuen Kaffee zu machen.
     
    Was sie mir bis dahin erzählt hatte, zog einen ersten komplexen Wirrwarr an Gedanken nach sich. Die neue Version meines Lebensbeginns brachte mich durcheinander – was für eine Herzlosigkeit, der

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