Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire
Säugling als Racheobjekt, welch irrationale Handlungsweise einer Frau, die sich verletzt fühlte, möglicherweise jedoch nur dem Geschwätz einer Wahrsagerin aufsaß. Ein Drama mit welchen Folgen? Konnte die mütterliche Zurückweisung, die als Baby erfahrene, frühe Ablehnung, den Verlauf eines Lebens entscheidend bestimmen? Hatte mich das Schicksal in Person des eventuell leichtfertigen Vaters, der postnatal depressiven Mutter vom Start weg mit einem üblen Handicap auf die Bahn geschickt? Handelte es sich bei mir vielleicht um einen von Anfang an Zukurzgekommenen, einen in puncto Spiegelneuronen und Mitgefühl früh aus der Balance Geratenen? Um ein spätes Opfer des Zweiten Weltkriegs gar – um einen vom Verlust der Mutter schwer Betroffenen, über sechzig Jahre lang? Der nun die Chance sah, eine ihn entlastende Rechtfertigung seines Lebens zusammenzubasteln und die Schuld am längst selbsteingestandenen Empathiemangel seiner Vier-Wochen-Mama anzuhängen? Dem in stagnierenden Zeiten des Herumgehockes die ihn ebenfalls entlastende wie deprimierende Erkenntnis des Doktor Freud in den Sinn kam – der Sohn, den seine Mutter liebt, ist ein Eroberer? Oder spielte das alles nur eine geringe oder vielleicht gar keine Rolle?
Eine der Tatsachen über das Ende des Zweiten Weltkriegs wurde mir auf dem Richterschen Hof von einer Zeitzeugin noch einmal klargemacht – in der Stadt Erfurt und ihrem Umland wechselte die Besatzungsmacht binnen weniger Wochen. Der im Nachbardorf stationierte amerikanische Soldat, der meine Mutter und mich im Taxi vom Krankenhaus mitgenommen hatte, tauchte von einem Tag auf den anderen nicht mehr auf, um nach mir zu sehen. So verlor ich durch eine militär- und weltpolitische Maßnahme der Siegernationen im Alter von drei, vier Wochen bereits meinen ersten Freund, einen schwarzen GI aus Amerika.
Im Gegenzug kamen die Russen ins Dorf, erzählte Frau Richter. Die Soldaten schauten sich auch den Hof und die Flüchtlinge genau an. Einer der Rotarmisten hatte ihr zufolge Gefallen an mir gefunden und mich mit hochgestemmten Armen immer wieder in die Luft geworfen: Was für ein schöner kleiner Iwan, rief er dabei – unser schöner kleiner Iwan, er lebe hoch, hoch, hoch.
A m Vormittag hatte Ella angerufen. Ob es mir wohl gelänge, mal kurz aus der egozentrischen Verpuppung herauszuschlüpfen, fragte sie – und ob mir bei meinen ständigen Tauchgängen in die Vergangenheit aufgefallen wäre, um was für einen Tag es sich heute handelte? Etwa ein besonderes Datum, fragte ich. Ja, vielleicht – unser Einjähriges, denn heute kennen wir uns seit genau einem Jahr. Käme das nicht auf die Berechnungsweise an? Zählte die Zeit vom Tag der ersten hin- und hergegangenen Blicke, vom Moment des ersten Wortes oder ab der ersten gemeinsam verbrachten Nacht? Ein Jahr heute, meinte sie – abzüglich der letzten Woche, in der wir uns ja nicht gesehen hätten. Wir vertagten alles Weitere auf den Abend. Erfreulicherweise spannte sich noch während des Telefonats meine Hose im Schritt – der leicht gereizte, angriffslustige Unterton in Ellas Stimme tat seine Wirkung.
Ein ganzes Jahr mit Ella – eine starke Leistung beiderseits, dachte ich, und das ohne einander besonders gut zu verstehen. Schon vergangen dieses schnelle Jahr, das Tage und Wochen kostende Verstimmungen, mehrere Beinahe- und tatsächliche Trennungen verkürzt hatten, wobei zwei, drei Kurzreisen es intensiver und versöhnlicher erscheinen ließen, als es war. Was die Qualität einer noch relativ frischen Beziehung angeht, sollte ohnehin niemand verlängerte Wochenend-Trips überschätzen – ein Paar, das nicht reisen kann, kann gar nichts. Vorbei also, das erste gemeinsame Jahr, ein Jahr, in dessen Alltag ich Ellas fürsorgliche Belagerung zuerst zeitweilig schätzte und später zeitweilig fürchtete, während sie unter meinen Rückzugstendenzen, meinem Hang zur solistischen Müßiggängerei von Anfang an zu leiden vorgab. Reine Routine, diese Verweigerung, wie sie es nannte, das eintrainierte Sich-Entziehen in eine nebulöse Bedürfnislosigkeit, die in Wahrheit ein munteres Herumhocken im Café Fler ermöglichte. Nur ein weiterer dieser Virtuosen der Distanz, hatte sie bald erkannt und vermutet, daß so einer den Widerspruch zwischen seiner Liebe zur Freiheit und der von ihm herbeigesehnten Einbindung in ein Paar wahrscheinlich niemals würde auflösen können.
Ella wollte das tägliche Zusammensein. Bereits nach einer Woche
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