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Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Titel: Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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viele junge Leute, speziell hier in Möbisburg, auf den Höfen ihrer Nachbarschaft, die sich Glatzen scheren lassen und dauernd Rabbatz machen … der Sohn vom Bauern zwei Häuser weiter hat vergangene Woche mit zweihundert dieser Konsorten seinen 25 . Geburtstag gefeiert … und zwei Dutzend Peterwagen mußten kommen, ohne ernstlich etwas ausrichten zu können gegen die laute Musik, das Gegröle, die das ganze Dorf verrückt machende Party auf den Weiden des Vaters, Betreten für Polizisten verboten …
     
    Aber sich diese Freiheiten zu nehmen, wär auch nichts anderes als westorientiert …
     
    Mir gefiel nahezu alles, was die alte, mir immer sympathischer werdende Frau sagte. Wenn ich ihre Abschweifungen und Nebenbemerkungen richtig verstand, dann waren die durchlebten Regime und Gesellschaftsformen für sie abstoßend, lächerlich bis peinlich und bestenfalls gerade hinnehmbar, wie gegenwärtig, in dieser Reihenfolge. In der Nazizeit arbeitete sie als Dispatcher bei der Reichsbahn und hätte gern irgendwas explodieren lassen, wenn die Salonwagen von Hitler oder Göring stundenlang auf ihren Erfurter Hauptbahnhofsgleisen abgestellt wurden, um die weitere Route und den Fahrplan zu verschleiern.
     
    Unauffällig bewacht, die Fenster war’n zugezogen, erzählte sie, nichts rührte sich in und an den Wagen … aber ich wußte, daß die da drinsaßen und warten mußten …, ’ 43 , ’ 44 , in großer Angst vorm Volk … nach ’ner halben Ewigkeit kriegten wir den Anruf, dann konnten sie abfahren.
    Da kamen die Nazibosse ja nur langsam voran, sagte ich.
    Nach dem Krieg hab ich weiter bei der Reichsbahn gearbeitet, später im Gemeindebüro … bei den Genossen, auch keine großen Leuchten, die haben das Dorf auf den Kopf gestellt mit ihren Schiebereien und ihrer Ranküne … den Hof gaben wir nach einigen Jahren ganz auf, kein einziges Feld mehr, keine Tiere … Sehn Sie das Foto hier, in dem Stall standen früher vierzig Kühe, wurde später ein Wohnhaus draus, für unsere Tochter …
     
    Vor dem Stall stand mein Vater.
    Mein Vater, so jung, so gutgelaunt.
    Er liebte das Landleben, was natürlich die Nähe zu Bauern und Kühen einschloß, dachte ich mit dem Foto in der Hand, eine damals eher ungewöhnliche Neigung für einen industriellen Büroangestellten. Auf dem nächsten Bild hielt er eine Angel ins Wasser, und mir fiel ein, daß er mich kleinen Jungen sonntags in die Kirche schickte, um selbst in den Tiefen der Nordharzer Wälder zu verschwinden – auf meine kindlichen Nörgeleien gegen den religiösen Zwangsdienst antwortete er mit der immergleichen Formel: Der Wald ist meine Kirche. Einer seiner Freunde betrieb in der hinter unserem Dorf beginnenden, leicht bergigen Naturlandschaft einen almartigen, von Kühen überlaufenen Bauernhof, Kochs Wiese genannt. Dort lernte ich bei meinen feiertäglichen Besuchen als Fünfjähriger das Hammelreiten, eine später nicht weiter ausgebaute, doch zirkusreife Nummer. Und die Erwachsenen sangen dazu – deutsche Volksweisen, voller Inbrunst und mit enormer Ausdauer.
    Hier Ihr Vater mit den beiden Töchtern, sagte Frau Richter und gab mir weitere Fotos.
    Sie singen, sie lachen, sie strahlen mich alle drei zusammen an wie nie in meinem Leben – das pure Glück im schwarzweißen sechsmalsechs Kleinbildformat.
    Die drei sangen oft im Hof … das Wolgalied mochte ihr Vater besonders gern.
    Wieso denn das Wolgalied?
    Ja, aber zum Glück hat er ja dem Osten den Rücken gekehrt in Richtung Westen. Von seiner Arbeitsstelle drüben im Braunschweigischen kam er jedes Wochenende zu seiner Familie hierher auf den Hof …
    Und das führte zu Problemen?
    Erst mal nicht, sagte Frau Richter, Sie sehn doch die große Fröhlichkeit auf den Fotos … jedenfalls war’s so bis zu Ihrer Geburt … die Schwestern gingen hier bis zum Schluß täglich zur Schule –
    – das wußt ich gar nicht, diese Ordnung im Kriegschaos –
    – ja, die lebten gern hier, immer lustig, jedenfalls ging’s so bis … ja … bis es zu diesem Streit kam, dem zwischen dem Vater und ihrer Mutter.
     
    Die Frau, die mich einige Monate später geboren hat, steht mit ihren beiden Töchtern auf der steinernen Treppe des Wohngebäudes. Sie trägt ein Schürzenkleid, dessen Stoff und Schnitt dem von Frau Richter heute ähnelt. Sie wirkt am wenigsten fröhlich und macht den Eindruck, als sei sie nicht gern auf dieses Bild gekommen.
     
    Ohne genau zu wissen, warum, tat sie mir einen Moment lang leid, bevor mir

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