Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire
Lebensbedingungen zwischen Gewalt und Hilflosigkeit, den Ambivalenzen zu Hause, der frühen Auflösung. Nein, keine Lust auf Bekenntnisse vom Flüchtlingsdasein, von Armseligkeiten, Demütigungen, zu kleinen Wohnungen und langen Hinfälligkeiten, vom zerrissenen Zusammenhang – nein, gar keine Lust, von der eigenen Geschichte zu sprechen, von der verschwundenen Mutter und der gebliebenen Stiefmutter, die sich nach dem Tod des Vaters schnell wieder verheiratete, was ihr meine tiefste Verachtung bis zu ihrem Ende in einer Nervenheilanstalt einbrachte. Nein, keine Bitten um Vergebung, wenn hinter jeder Erinnerung schon die nächste Erinnerung lauerte, und hinter jeder eingestandenen die nächste mögliche Schuld. Tatsächlich fing das Leben erst mit Siebzehn an. Erst von dem Zeitpunkt an zählte es. Mit Siebzehn war ich allein und frei, die Pastorale im Wald endlich in Richtung großer Städte verlassen zu können – im Zeichen von Flucht und Eroberung.
Der Mann im Nebenzimmer hackte neuerdings Holz auf seinem Balkon und spielte dazu einige selten zu hörende, instrumentale Stücke im Sound der sogenannten Hawaigitarren, einer so gut wie ausgestorbenen amerikanischen Musik. Auch diese Melodien kannte ich ausnahmslos, die Namen der Bands und Titel jedoch nicht. Nach vier Wochen war die laufende Periode der Beschallung von nebenan wieder vorbei.
W ie alte Vertraute hatten wir im schummrigen, von altmodischen Stores heruntergedimmten Halbdunkel des Wohnzimmers gesessen und am Kaffeetisch geredet – Frau Richter bester Laune, wieder in ihrem gemusterten, ländlich zeitlosen Schürzenkleid, die versprochenen Fotos meiner Familie vor sich hingestreut, ich mit großer, nochmals gesteigerter Neugier, da es in diesem Gespräch in erster Linie um mein Zur-Welt-Kommen gehen würde.
Nachmittags war Ihre Mutter hier auf dem Hof mit einem farbigen Mann aufgetaucht … mit einem Schwarzen, hatte Frau Richter zu Beginn gesagt und nach meiner verständnislosen Rückfrage – was für ein Schwarzer? – hinzugefügt, ein GI , ein amerikanischer Soldat.
So ein schwarzer Mann sei etwas beunruhigend für die Flüchtlinge aus dem Osten gewesen … zumal er fortan alle paar Tage auf den Hof gekommen sei, um nach »seinem Baby« zu schauen – ihre damalige Irritation durch diesen Besucher senkte noch heute kurz die Stimmlage der alten Frau. An solchen Stellen des Gesprächs knetete und rieb sie ihre Hände, als ränge sie mit sich, ob weitere, womöglich unangenehme Dinge gesagt werden sollten oder besser nicht. Tatsächlich bekam ich an diesem verregneten Tag von Frau Richter zu hören, unter welchen Umständen sich der Beginn meines Lebens wirklich vollzogen hatte. Sie waren in vieler Hinsicht anders als bisher von mir angenommen. Fast sechzig Jahre alte Gewißheiten wurden binnen zwei, drei Stunden bei Kaffee und Kuchen korrigiert – mit zunehmend gruseligen Effekten.
Anfangs war es mir noch leichtgefallen, den Richterschen Erzählungen zu folgen und sich die Situation vorzustellen, in der meine Mutter, zierlich, rothaarig, wie Vaters spätere Frauen, den in Decken gewickelten Säugling aus dem Krankenhaus trug, um dann als anrührende Flüchtlingsikone hilfsbedürftig auf der Straße zu stehen. Gar nicht so einfach, am Tage nach meiner Geburt in der Innenstadt von Erfurt ein Taxi zu kriegen – das Ende des Zweiten Weltkriegs lag ja erst einen Monat zurück. Ein amerikanischer Sieger-Soldat, der mit einem allein genutzten Taxi zufällig an der Klinik vorbeifuhr, ließ anhalten und bot Mutter und Kind eine Mitfahrgelegenheit, die schließlich mit dem Einrollen in Richters Bauernhof endete – mein erstes Auftauchen in der Öffentlichkeit, und das erste Zuhause, in das ich nun heimkam, um es mit sechzigjähriger Verspätung zu besichtigen.
Neu geboren und schon als Tramper unterwegs, sagte ich.
Sie müssen wissen, sagte Frau Richter, daß die meisten der hergeflüchteten, aus Schlesien stammenden Kinder und Frauen noch nie zuvor einen lebenden Schwarzen gesehen hatten.
Er war mein erster Freund in diesem Leben, ein Mann von der Straße, ein schwarzer Amerikaner, ja, die Westorientierung, schon so früh.
Diese GI s war’n damals sehr kinderlieb, richtig närrisch mit den Babys, sagte Frau Richter und begann eine Klage über die Gegenwart.
Heut macht man daraus Probleme, sagte sie, man schürt hier eine Angst vor Fremdem, die Gewalt, dieses Rassistische, für das ich gar kein Verständnis habe … zu
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