Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Titel: Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
Vom Netzwerk:
erst am letzten Abend erzählt worden.
     
    Es endete alles ganz furchtbar, hatte sie gesagt – zum Schluß wurde Ihr armer Vater von Ihrer Mutter auch noch auf übelste Weise denunziert.
    Denunziert, hatte ich gefragt – was soll das denn heißen?
    Sie ging zur Gemeindeverwaltung und behauptete, er wäre schuld daran, daß zwei ihrer Brüder ins Lager Buchenwald eingeliefert wurden.
    Das darf doch nicht wahr sein, nein, zwei ihrer Brüder nach Buchenwald, in dieses Lager – wie konnte das denn gehen?
    Davon weiß ich nichts … da brauchte es manchmal keine Gründe, vielleicht als Kommunisten, vielleicht wegen Widerstandes …
    Das glaub ich alles nicht … hatte ich mehrmals konsterniert wiederholt – mein Vater ein Denunziant, der seine nahen Verwandten verrät, das paßte überhaupt nicht zu ihm. Und meine Mutter die Denunziantin eines Denunzianten?
     
    Sollte ich hierhergefahren sein, um so etwas zu hören? All das, was ich nicht an mich herankommen lassen wollte, was mir so fern wie möglich bleiben sollte, war nun nah und geisterte zugespitzt durch mein Denken – die finsteren Manöver einer Familie im Krieg, ihr Versagen, ihre Schuld. Sich sechs Jahrzehnte danach damit auseinandersetzen zu müssen brachte mich durcheinander. Während der Achtundsechzigerphase hatte ich ja keine Familie, die ich wegen irgendwelcher Taten unterm Hakenkreuz hätte angreifen können – bereits seit Jahren, seit dem Tod meines Vaters, war mir die elterliche Geschichte immer gleichgültiger geworden … ohne größere Bedeutung jedenfalls für einen Halbwüchsigen, der sich selbst adoptierte und als absolut einzelner weiterlebte.
     
    Doch mit dem Besuch in Erfurt kehrte die Familiengeschichte zurück und erschütterte meine wenigen Gewißheiten. Nein, keine Schweinereien, keine schlimmen Sachen, hatte ich früher auf die oft gestellte Frage geantwortet, ›Was haben denn deine Alten während der Nazizeit gemacht?‹ – meine Mutter besaß einen Hutsalon, der Vater führte die geerbte Moselfähre … Das beruhigte mich und andere. Um achtundsechzig herum war’s ohnehin nicht so, daß jeder jedem die reine Wahrheit über die Vergangenheit von Vati und Mutti erzählt hätte. Sogar engere Freunde hielten sich zurück oder verwischten manche Tatsachen, aus Unwissenheit oder schamvoller Distanzierung vom verdorbenen deutschen Ganzen … Die neu aufkommende angloamerikanische Popkultur befreite uns Nachgeborene davon – die richtigen Rockscheiben, Filme und Comics zu finden war für eine Mehrheit wichtiger, als unterm Familienstammbaum nach abgefallenen, faulen Früchten zu suchen. Auch Gauleitersöhne spielten lieber Baßgitarre, wie einer meiner ungeliebten Cliquenmitläufer, der Stalinski, dessen Vater, stimmigem Geraune zufolge gerade noch rechtzeitig nach Argentinien rübergemacht hatte. Und der meinige? Welche Schuld träfe ihn? Auch nach diesem spät enthüllten, unglaubwürdigen Vorwurf der Denunziation hielt ich meinen Vater eher für unbelastet.
     
    Ihre Mutter wollte ihn fertigmachen, hatte Frau Richter gesagt, und zwar mit allen Mitteln.
     
    Kein schöner Zug von dir, mein liebes Vierwochenmütterchen – durch nichts zu entschuldigen, weder durch die Zeiten noch durch eventuelle Verfehlungen deines Mannes.
     
    Es war nur eine weitere der von ihr begangenen Schlechtigkeiten, die mich ungeachtet ihres langen Zurückliegens aufbrachte. Auch dann noch, als Frau Richter versuchte, die böse Tat etwas abzuschwächen, und meinte, daß es sich um den letzten sinnlosen Racheakt einer verzweifelten Ehefrau gehandelt hätte, die wenige Wochen nach Kriegsende die schlimmstmögliche Anschuldigung für eine Anzeige gesucht hätte – ganz unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt. Erst jetzt, erst durch ihre Erzählungen verstand ich die Haßausbrüche meines Vaters, wenn in früheren Zeiten die Rede auf seine in weiter Ferne lebende Ex-Ehefrau gekommen war. Bei den naturgemäß immer seltener werdenden Anlässen verlor er fast jedesmal die Fassung. Dann verfluchte und verwünschte er diese verdammte Madame, deine, wie er mir entgegenbrüllte, hinterhältige und verlogene Mutter, was mich anfangs in kleinkindliche Verwirrung stürzte und dann als Sieben- oder Achtjährigen rätseln ließ – zum einen über die abwesende, mir unbekannte leibliche Mutter, zum anderen über die anwesende und von mir als Mutter angenommene Frau, die während Vaters Haßtiraden regelmäßig in sichtbarer Betrübnis verstummte. Sein Lamento, die

Weitere Kostenlose Bücher