Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire
späteren Erklärungen, der Pfarrer, der ausdrücklich für das Kind und nicht für den geschiedenen, exkommunizierten Hausherrn die Dreikönigssegnung über die Tür kreidete, und mein wachsender Verstand machten mir damals klar, Teil sowohl einer auseinandergelaufenen, doch blutsverwandten wie auch einer nachträglich entstandenen, doch falsch zusammengesetzten Familie zu sein. Aus den früh erfahrenen, nach und nach deutlicher werdenden Widersprüchlichkeiten heraus entwickelte sich meine Abneigung gegenüber allem Familiären – ein Gefühl, das von der Pubertät und dem Freiheitswillen eines Früherwachsenen bis zur Bereitschaft verstärkt wurde, völlig darauf zu verzichten. Fürs Leben planen ließ sich so etwas nicht. Es geschah eben.
So gesehen ließen sich Frau Richters Erzählungen auch als nachgelieferte Begründungen meiner Haltung verstehen. Jahrzehntelang hatte ich ihr entsprechend gelebt – ohne Familie, ohne ihre Vor- und Nachteile, auch ohne den dazugehörigen Ort. Fragte mich jemand nach den Gründen, erklärte ich das langgestreckte Single-Dasein der Einfachheit halber mit den biographischen und den parallelen historischen Abläufen. Punkt eins war, ein in den Nachkriegswirren kompliziert aufgewachsenes Scheidungskind gewesen zu sein, Punkt zwei, danach ein vom Zeitgeist geleiteter Twen(tysomething), der sich, Punkt drei, unter Einfluß des rebellischen Achtundsechzigergezerres an der Institution Familie zur biologisch pünktlichen Gründung einer eigenen Familie nicht hatte durchringen können. Der nicht daran glaubte, daß das Familienleben von der Evolution diktiert wäre, und der daher, Punkt vier, einige Jahre später sein solipsistisches, von Verantwortung weitgehend befreites Lust-und-Laune-Leben den verpflichtenden Formen der Mehrheit vorzog. In den anti-autoritären Zeiten schien die Ehe ohnehin für immer abgeschafft. Überzeugend in dem Punkt auch die maoistische Kulturrevolution … deren Funktionäre forcierten ja das Verschwinden der als Basis des Kapitalismus betrachteten Ehe – für ihre unbürokratische Auflösung sollten zwei Wochen und vier Dollar Gebühr genügen … Das waren doch bleibende Prägungen, liebe Ella. Selbst nach dem Ende der erotisch hochgerockten, rebellischen Jahre heiratete kaum jemand aus meiner Bekanntschaft – außer dem einen oder anderen homosexuellen Paar in jüngerer Zeit.
Alles Blödsinn, hatte Ella wiederholt gesagt, du bist nichts anderes als das Ergebnis jahrelanger Fehlentwicklungen – das Zusammenleben ist nun mal Normalzustand …
Um diesen Zustand für unseren Fall zu erreichen, hätte Ella eine Woche der Vorbereitung genügt, während ich als Anhänger des Getrenntlebens respektive der verantwortungsfreien mandschurisch-schöneberger Besuchsehe mindestens fünf bis zehn Jahre Bedenkzeit für einen Kurswechsel brauchen würde … Die Unterschiedlichkeit eines Paares konnte nicht nur in dieser Frage kaum größer sein. Obwohl auch sie bisher keine eigene Familie zustande gebracht hatte, hielt ich Ella für ein Familientier, wenn auch ein angeschossenes, verwundetes, da sie die Realisierungschancen der von ihr erwünschten Existenzform schon zu lange schwinden sah. Im Grunde vertraute sie nur ihrer alten Verwandtschaft. Beinahe täglich telefonierte sie mit einer der Schwestern, Cousinen oder Schwägerinnen und sonntags mit den Eltern. Deren Zusammenleben hatte sie einmal kurz beschrieben – in der Firma, die sie gemeinsam führten, hätte die Mutter ihren Mann den ganzen Tag über feldwebelartig zusammengestaucht, doch spätabends nach getaner Arbeit sei aus dem Schlafzimmer von den beiden nur wohliges Stöhnen gekommen. An dieser Stelle wurde ich hellhörig und glaubte, darin ein von der offenbar daueraggressiven Mutter dominiertes, sexuelles Muster zu erkennen, dessen lange erste Phase mir wenig gefiel. Fraglos hätte Ella am liebsten in einer von ihr beherrschten, konventionellen Konstellation gelebt.
Nach so langem Einzelmensch-Dasein ging mir das Gefühl für familiäre Zustände mehr denn je ab. Dennoch rührte es mich an, wenn andere wie Ella von ihren Eltern und Geschwistern redeten – egal, ob sie mit dem besten Einverständnis oder äußerstem Unverständnis erzählten. Dann stellte ich mir vor, daß sie wie selbstverständlich eine innere, unzerstörbare Bindung zu den mit ihnen verwandten Menschen spürten. Und damit womöglich zur Menschheit insgesamt, eine emotionale Verbundenheit also, die mir zum eigenen
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