Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire
Unbehagen in dieser Eindeutigkeit fehlte.
Diese Mutter, was für eine Frau, dachte ich und sagte es auch mehrmals auf der Fahrt nach Buchenwald – welche Infamie, nach über zwanzig Jahren Ehe dem eigenen Mann so ein Ding anzuhängen.
Von der Denunziation hatte ich in früheren Jahren nicht mal andeutungsweise etwas gehört. Wer hätte darüber Bescheid wissen können? Welche Behörde wäre für so etwas vier Wochen nach dem Kriegsende überhaupt zuständig gewesen? Wer hätte in dem Chaos eine tatsächlich begründete Anzeige von einem bloßen Racheakt zu unterscheiden gewußt? Frau Richter war überzeugt, daß die Anschuldigung zu unrecht erhoben und von den Behörden auch als unwahr verworfen worden wäre. Ihr zufolge reiste meine Mutter wenige Tage nach der Anzeige zurück in ihre Heimat, der Vater erschien nicht mehr zum Familienbesuch in Erfurt und von den beiden angeblich ins Lager gekommenen Brüdern wußte sie nichts.
So ganz unverdient war die Beschuldigung gegen ihn auch wieder nicht, sagte Ella irgendwann – die hatten doch alle Dreck am Stecken.
Halt dich da raus, hatte ich sie angeherrscht, um dann naiv und hilflos meinen Vater kurz zu charakterisieren: Er war anders, er war nicht in der Nazi-Partei, nicht mal Soldat, untauglich wegen der berühmten Scheuermannschen Krankheit im Rücken, eine, wenn’s auch nach so langer Zeit komisch klingt, ehrliche Haut, ein Ehrenamtsmulti, Mitglied in vielen Vereinen – und doch melancholisiert wegen des Verlustes seiner ursprünglichen Heimat, die er mitten im schönsten Leben wegen des Zweiten Weltkrieges verlassen mußte …
Ella sah ein, daß sie – anders als bei den vorhergegangenen, von ihr verständnisvoll erklärten Taten – über den letzten Fehltritt meiner Mutter besser schweigen sollte. Ihre Argumente halfen hier sowieso nicht weiter. Sie würde die Liebe kennen, behauptete sie in Gesprächen oft genug, um auf meine Nachfrage ›Ja, welche denn‹ zu antworten, in jedem Fall die mütterliche Liebe – als seit siebzehn Jahren alleinerziehende Frau. Das war diejenige Form, die ich am allerwenigsten kannte. Und nach allem, was mir in den vergangenen drei Erfurter Tagen erzählt worden war, mußte ich sogar froh darüber sein, die mütterliche Liebe nicht länger als einen Monat genossen zu haben. Diese Mutter zeigte sich post mortem von ihrer häßlichsten Seite und ließ mich von einem Verrat meines Vaters und gleich zwei inhaftierten Onkeln phantasieren – aufgrund einer von ihr geschaffenen, wenig wahrscheinlichen Absurdität. Sie brachte mich dazu, mit ganz anderen Gefühlen als gedacht nach Buchenwald zu fahren – weniger in der erwartbaren, obligaten Beklommenheit der Nachgeborenen als vielmehr aufgebracht und verärgert.
Eine anfangs landschaftlich schöne Strecke, gut geeignet für Wochenendausflüge von Großstädtern – sie führte durch hügelige Waldgebiete in Richtung Ettersberg. Am Abzweig nach Buchenwald wechselte der Straßenbelag fühl- und hörbar vom glatten Asphalt zum Kopfsteinpflaster einer deutlich schmaleren Straße, der sogenannten Lagerstraße, wie auf den städtisch wirkenden, unpassend zwischen Bäumen und Büschen aufgestellten Namensschildern zu lesen war. Da es keine Bahngeleise gab, führte allein sie ins Lager hinein. Sie sollte mit den ungewöhnlich weit auseinanderliegenden und damit sparsam gepflasterten Kopfsteinen offenbar wie das rekonstruierte Original aussehen – ungeachtet der Tatsache, daß jede bauliche Rekonstruktion eines KZ s und seiner Verkehrswege die Realität verfälschte. Dennoch setzte spätestens hier auf der langen Geraden unterm Blätterdach die unangenehme Aura eines Ortes ein, dessen Vergangenheit mir mit etlichen vorgewußten Bildern, Film- und Literaturzeugnissen auf zwar virtuelle, doch merkwürdig faßbare Weise präsent war.
Der Buchenwald lichtete sich, Baracken wurden sichtbar, klar, wieder Holzbaracken, daran Schilder amtlicher Institutionen, ein Lager-Modell beim Kartenkauf in der Empfangsbude, nach dem Eingangstor ein letzter zweihundert Meter langer Fußweg, und dann nahm das Auge des Besuchers das umzäunte, bis auf wenige verstreut liegende Gebäude leere, feld- und wiesenartig zubereitete Areal in den Blick … Ein seltsamer Anblick, da man die Wegführung, das instand gesetzte Wegenetz, original belassen, die dazugehörigen, nur im Grundriß erkennbaren Lagerbaracken aber entfernt hatte – befremdlich, diese nackten Straßen ohne Häuser. Am
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