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Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire

Titel: Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Ella, der bestimmt, was du tust, und nicht du selbst.
     
    Doch wer oder was speiste diese nicklige Stimmung, in die wir bei fast jedem Zusammensein gerieten? Das konnte ganz schnell passieren. Wenn Ella beim Essen in einem feindseligen Moment mit bittersüßem Lächeln erklärte, spätestens im nächsten Jahr werde sie eine wirklich glückliche Beziehung haben, wahrscheinlich auf Gomera, dann wußte ich, hier waren wieder weit abdriftende Bedenken und Ängste unterwegs. Welche denn, fragte ich in solchen Momenten, laß sie uns mal durchzählen, erstens, zweitens, drittens … die Angst vorm Alter, die Existenzängste … paah, überflüssig, mit deinem Aussehen, deinen Umgangsformen, dem direktricenhaften Auftreten hätte dich jeder vergangsterte Luxusmöbelhändler oder Edelboutiquenbesitzer gern in seinem Laden … und der Rest fände sich. Empörtes Abblocken – klar, ich war ihr Geliebter und nicht ihr Psychotherapeut …
     
    So verhedderten wir uns tagtäglich in nutzlosen Meinungsverschiedenheiten, produzierten ein auf- und abschwellendes, auch keifendes Gejammer – womöglich die Erwachsenenversion der sogenannten Gefühlsansteckung, derzufolge einjährige Babys sofort weinen, wenn andere einjährige Babys weinen; noch so ein Lesefrüchtchen, das nur wenig einbrachte. Aber wer war schon wirklich bewandert in unseren inneren Landschaften, diesem dualen System, in dem jede Wahrnehmung, jede Erinnerung, jeder Gedanke von Emotionen begleitet wurde … eine der Voraussetzungen, um zu vernünftig ausbalancierten Entscheidungen zu kommen … Wer denken will, dachte ich, muß fühlen … Unser Problem war jedoch, daß ich zuviel dachte und Ella zuviel fühlte. Daher fühlte sie sich nach meinem Eindruck ziemlich wohl in unserem Perma-Streit, in dem mit viel Energie geschaffenen, dramatischen Milieu hielt sie sich lieber auf als in einem gewöhnlichen Alltag oder sonstwo … In dieser neurotischen Ersatzwelt ließ es sich mit großer Leidenschaft leben, dort war immer was los, und dort konnte jemand weder mit dem realen Geschehen belangt noch mit sich selbst konfrontiert werden …
     
    Als unsere Unterhaltung gestern abend das erste Mal eskalierte, saßen wir noch beim Wein in der Küche. So weit ich mich erinnerte, ging es um die Zukunft, ums nächste Jahr, wobei Ella beinahe beiläufig erzählte, sie wäre bei einer Frau gewesen, die mit Menschen arbeitete – wie, mit Menschen arbeiten, unterbrach ich – als eine Art Lebensberaterin bei wichtigen Entscheidungen und Zukunftsfragen.
     
    Du warst bei einer Wahrsagerin, hatte ich ziemlich laut gesagt, das kann doch wohl nicht wahr sein, meine Güte, darüber ham’ wir in Erfurt doch lange genug gestritten – und dann gehst auch du zur Wahrsagerin … im 21 . Jahrhundert.
     
    Eine sehr renommierte Frau, sagte Ella, die mich natürlich gewarnt hat …
    … gewarnt wovor?
    … vor dem Mann, mit dem ich zusammen bin, ein Mann, den sie als einen erkannt hat, der gar nicht gut für mich sei …
    Ach, wie denn erkannt?
    Anhand eines Fotos von dir, das reichte zur Entwicklung einer Wahrsagekarte …
    … Entwicklung einer Wahrsagekarte? … nein, nein, nein, schon wieder Kartenspielereien … das kann nicht sein, hör mir auf …
    … eine ganz seriöse Sache, um etwas über den Charakter herauszulesen …
    … hoffentlich habt ihr euch vorm Wahrsagen die Hände gewaschen …
    … alles, was mir über dich einfiel, hab ich ihr erzählt, und rausgekommen ist das Urteil über einen Mann, der gar nicht zu mir passen würde, der einfach nicht der Richtige sei … auf längere Sicht …
    Okay, Ella, hatte ich schließlich gesagt, die Frau hat recht – mir würde es genügen, wenn du mein Leben für zwei wunderbare Jahre verschönerst …
     
    Ella war sofort aufgestanden, hatte mit zwei Griffen Tasche und Mantel an sich gerissen und mit der Türklinke in der Hand gesagt: Und die sind jetzt vorbei.
     
    Eine Stunde später war das vergessen. Auf Ellas erste Seufzer mußte ich nicht länger warten, auf dieses freudige Lockstöhnen, das beim Griff in ihre bloße Rückenfurche sehr schnell kam und eindringlicher wurde, wenn sich meine Fingerspitzen in die Vertiefungen ihrer Wirbelsäule drückten, sie einzeln abfuhren, weiter aufwärts und abwärts wanderten, bis sich beide Körper unter Flüstern und Stöhnen gemeinsam bewegten, die kurzen, spitzen Frauenschreie bald in einen anhaltend kräftigen Schrei übergingen … Ein bedeutender, auf ewig geliebter Moment, dem ich

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