Gutgeschriebene Verluste - Roman mémoire
achtzehn gewordenen Tochter zu erzählen, von der Sorge, sie in Kürze zu verlieren, da sie eigene Wege gehen wollte, bestimmt bald auszöge, so daß ich augenblicklich Angst bekam, dann viel häufiger für Ella da sein zu müssen, weil ihr nach der Trennung etwas fehlen würde. Mutter und Tochter waren im ständigen Kontakt, telefonierten mindestens alle zwei Stunden miteinander, stimmten jeden wichtigen Schritt vorzeitig ab – nach meinem Eindruck lebten sie in allerengster Symbiose … zu eng, dachte ich, und manchmal: schön eng. Der Vater des Kindes hatte die beiden bei der Geburt schmählich allein gelassen – zur größten Enttäuschung Ellas, die so zur Alleinerziehenden wurde, mit entsprechend intensivem, innigem Verhältnis zu ihrer Tochter und gelegentlich ausufernden Wutausbrüchen gegen einen gutverdienenden, hartherzigen Yuppie in Hamburg, der nur unregelmäßig … Eine über achtzehn Jahre gestaute Wut gegenüber Männern, die auch einen wie mich einschließen konnte, der ähnliche Problemsituationen vor Jahrzehnten vielleicht auch nicht anständiger gelöst hatte. Und der sie in einem Moment geringerer Geistesgegenwart tatsächlich fragte, warum sie denn damals nicht einfach abgetrieben hätte … das wäre in den Siebzigern, den Achtzigern doch von so vielen gemacht worden …
Das Bett ruckelte heftig, als Ella aufgestanden war und aus dem Flur gerufen hatte: Hier kann ich nicht liegenbleiben, nicht mit so einem Typen, der noch immer an den wilden Zeiten hängt, schäm dich.
Schämen? Wenn ich an die erste, von mir als sechzehnjährigem Schüler mitverschuldete Abtreibung dachte, an diesen Schock, an die wachsende Verzweiflung der Jugendfreundin, fast wahnsinnig vor Angst, zuzuschauen, wie sie noch im sechsten Monat im Bikini durch den Garten ihrer ahnungslosen Eltern herumspazierte … wie der engelmacherische Bauingenieur seine Glasröhrchen bei ihr einsetzte und immer wieder versagte … und wir am Ende doch für sieben Stunden Mutter und Vater eines sterbenden Babys wurden … – dann wäre sich schämen gar kein Ausdruck für die monatelange Quälerei zweier hilflos ausgelieferter, unerfahrener Kids, die bald auseinandergingen und beide zeitlebens keine Kinder mehr zeugen sollten …
Langlang her, diese Geschichte … und bliebe doch besser unerzählt. Späte Bekenntnisse konnten einem noch nach Jahrzehnten in dem Moment auf die Füße fallen, in dem sie ausgesprochen wurden … mit einer Wucht, als wären die Taten gerade eben erst geschehen. Obwohl es die Wechselfälle des Lebens gab, die Veränderungen der Moral. Und damit genug Gelegenheiten für die multiple Persönlichkeit, sich von allen Seiten zu zeigen.
Sie könnte gar nicht mehr weggehen, hatte Ella nach ihrer dritten Rückkehr gesagt, sie würde schon viel zu tief in der Sache drinstecken.
Was für eine Nacht, dachte ich, eine Nacht, die ich vor Jahren noch als Beweis einer besonderen Leidenschaft gesehen hätte – doch jetzt? Langsam wuchs die Ahnung, daß Ellas Gefühle für mich zu anstrengend sein könnten … Ich war ja nicht mehr sechzig.
Später arbeitete ich wieder wieder an meinem Wochenkommentar, und beim Eingeben eines Suchbegriffs fiel mir auf, wie oft die Namen meiner beiden Onkel im Verlaufsbericht der letzten Wochen auftauchten – wie oft ich also seit dem Ende der Erfurt-Reise versucht hatte, dem finsteren Rätsel um die beiden auf die Spur zu kommen … In dem Moment rief Ella an. Sie wandele gerade durch eine wunderschöne Viereinhalbzimmerwohnung, Parkett, Flügeltüren, hell und vor allem gerade frei zu vermieten – der Makler stünde neben ihr. Ob ich nicht schnell vorbeikommen könnte – es sei nur um die Ecke, in der Langenscheidtstraße dreizehn, bergauf die rechte Seite. In der Langenscheidtstraße dreizehn, wiederholte ich – dort gegenüber hab ich schon mal gewohnt. Ob sie dem Makler etwas sagen solle? Nein, ich bin gerade mit etwas anderem beschäftigt.
D ie einzigen unserer bisherigen Nächte, in denen Ella und ich nicht miteinander schliefen … diese drei Nächte in Erfurt, als auch ich’s mal mit der Familie hatte und mich seit langer Zeit wieder mit deren Beziehungsgeflecht beschäftigte. Keine einfache Reise, zumal wir bereits vorher beschlossen hatten, auf der Rückfahrt zusätzlich Weimar und Buchenwald zu besuchen – noch ganz ohne Kenntnis einer weiteren, mit diesem Schreckensort zu verbindenden Untat meiner Mutter. Sie war uns von der alten Frau Richter
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