Gwydion 02 - Die Macht des Grals
sogar grausame Entscheidungen treffen musste? Jeder, besonders Rowans Vater Sir Kay, setzte große Erwartungen in ihn, und es war jetzt schon zu erkennen, dass ihm dieser Druck schwer zu schaffen machte.
„Was ist mit dir?“, fragte Katlyn und riss Gwyn aus seinen Gedanken. „Warum bist du für Merlin so wichtig?“
„Oh, bin ich das?“, fragte Gwyn ausweichend.
Jetzt musste Katlyn lachen. „Glaubst du wirklich, er widmet dir seine Aufmerksamkeit aus reiner Freundlichkeit? Ich bin ihm von Nutzen, weil ich mich um seine Bücher kümmere. Du magst zwar nur ein Bauernsohn sein, aber deswegen bist du nicht unbedeutend. Das hast du in der Schlacht gegen die Sachsen bewiesen. Aber welchen Vorteil verspricht sich Merlin von einer Förderung deiner Fähigkeiten?“
„Ich weiß es nicht“, gab Gwyn zu. Wenn seine Vision von Mordreds und Arturs Tod ein Blick in die Zukunft war, so würde er das blutige Ende Camelots miterleben. Welche Rolle er dabei spielte und welchen Gewinn Merlin daraus zog, war für ihn ein Rätsel. Muriel hatte einen Verdacht geäußert, den er aber sofort verworfen hatte. Merlin war der heimliche Herrscher Camelots, aber hatte er auch den Ehrgeiz, sich in die erste Reihe zu stellen und Britanniens Herrscher zu werden? In diesem hohen Alter? Nein, es musste einen anderen Grund geben, warum er für Merlin eine wichtige Rolle spielte. Doch diese Frage würde er heute nicht beantworten können. „Lass uns mit dem Unterricht beginnen“, sagte er schließlich.
„Also bist du bereit für die erste Stunde?“
„So bereit, wie man nur sein kann.“ Er setzte sich auf den einzigen anderen freien Stuhl. „Was ist das?“ Er deutete auf eine graue, rechteckige Steintafel.
„Eine Schiefertafel. Der Nagel ist dein Stift. Mit ihm wirst du schreiben.“
Gwyn kratzte ein wenig auf der Steinplatte herum. „Aha“, sagte er schließlich und legte den Nagel wieder beiseite.
„Wir beginnen heute mit dem ersten Buchstaben des Alphabets. Eine Ahnung, welcher das sein könnte?“
Gwyn schüttelte den Kopf.
„Es ist das A.“ Sie nahm sich die Schiefertafel und schrieb etwas darauf, was für Gwyn wie ein verunglücktes Dreieck aussah. Katlyn hielt ihm den Nagel hin. „Jetzt du.“
Gwyn bemühte sich, den Stift genauso zu halten wie sie und versuchte sich nun ebenfalls an einem A.
„Oh“, sagte er schließlich und legte den Kopfschief. „Sieht ein wenig schräg aus.“
„Das macht nichts. Probier es einfach noch mal.“ Sie sah ihm dabei zu, wie er hochkonzentriert und mit halb herausgestreckter Zunge einen weiteren Buchstaben malte.
„Besser?“
„Fast. Versuch’s noch einmal.“
Doch egal wie sehr sich Gwyn bemühte, das Resultat hatte nur eine entfernte Ähnlichkeit mit dem Buchstaben, den Katlyn als Vorlage geschrieben hatte.
„Möglicherweise hätten wir doch mit etwas Einfacherem beginnen sollen“, sagte sie mit einem amüsierten Lächeln. „Mit einem I vielleicht.“
Entnervt knallte Gwyn den Nagel auf den Tisch. „Ich kann das nicht“, sagte er. „Mir fehlt einfach die Geduld dafür.“
Katlyn ließ sich nicht beirren. „Ohne Geduld wirst du es nicht schaffen. Du musst auch in deiner freien Zeit üben.“
Gwyn blies die Backen auf.
„Merlin hat angekündigt, dass er dich prüfen wird. Bis dahin solltest du in der Lage sein, einfache Wörter zu schreiben.“ Sie stand auf und stellte sich auf eine kleine Bank, um an ein Buch zu gelangen, das ganz oben auf ihrem Regal stand. „Mein Vater hat uns Kindern eine Fibel gemacht, mit der wir lesen gelernt haben. Jedes Wort wurde mit einem Bild illustriert. Es beginnt mit A wie asinus, das ist Lateinisch für Esel, und endet mit X wie xiphos. Das Wort kommt aus dem Griechischen und bedeutet Schwert. Ich gebe die Fibel nur ungern her, aber ich weiß, dass sie bei dir in guten Händen ist.“ Sie stellte sich auf ihre Zehenspitzen und streckte ihre Hand aus. Doch sie war zu klein.
„Hilf mir bitte“, bat sie.
Gwyn stand auf und stellte sich zu ihr auf die Bank.
„Da oben ist das Buch. Es ist in grünes Leder eingeschlagen.“
Gwyn reckte sich und stützte sich auf ihre Schulter, doch auch er war nicht groß genug. Er hüpfte einmal, zweimal, dann hatte er es erwischt.
Plötzlich brach mit einem hölzernen Krachen die Bank ein. Erschrocken hielt sich Katlyn an ihm fest, dann stürzten sie beide auf das mit Kissen ausgepolsterte Bett, wobei Katlyn der Länge nach auf Gwyn fiel.
„Runter von mir“, ächzte er. „Du bist
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