Gwydion 02 - Die Macht des Grals
nicht, sondern starrte ihn an, als habe er sie gerade geohrfeigt. Sie war ganz blass geworden.
„Um Gottes willen, nein! So habe ich das nicht gemeint!“, rief Gwyn hilflos. „Ich wollte nur sagen, dass nur wenige mit Aileens Selbstbewusstsein gesegnet sind.“ Jetzt war es an ihm, zu erröten, denn er redete sich immer mehr um Kopf und Kragen.
„Ja, das stimmt. Sie ist ein, sagen wir mal, außergewöhnlicher Mensch“, sagte Katlyn, der das Thema offensichtlich unangenehm war.
Gwyn fragte sich, ob Aileens Zofe, die stets im Schatten der Prinzessin stand, wusste, welches Bild die Knappen von ihr selbst hatten. Sie mochte auf den ersten Blick zwar blass und unscheinbar wirken, doch er ahnte, dass sie sich nicht nur in dieser Hinsicht von den lauten Maulhelden unterschied, die den Rittern der Tafelrunde dienten.
„Wie kommt es, dass du dich so sehr für Bücher interessierst?“ fragte er sie.
Katlyn schwieg zunächst, doch dann begann sie zu erzählen. „Meine Familie hat seit Generationen in römischen Diensten gestanden, einer meiner Vorfahren war sogar ein hoher General des letzten Kaisers Romulus Augustus. Doch als die Römer abzogen, brach innerhalb weniger Jahre alles zusammen. Mein Großvater Enric versuchte von der römischen Kultur so viel wie möglich zu retten, da er wusste, dass mit dem Ende der alten Herrschaft das Chaos ausbrechen würde. Er gehörte zu den Männern um Ambrosius Aurelianus, der kurz vor seinem Tod Arturs Vater Uther Pendragon zum König machte, weil er hoffte, durch ihn den Untergang Britanniens aufhalten zu können.“ Katlyn setzte sich und war auf einmal sehr ernst. „Wir lebten in der ehemaligen Hauptstadt der römischen Provinz Britannien, Londinium. Schon zu dieser Zeit war die alte Pracht längst vergangen. Seit Jahren wurde kein neues Haus mehr errichtet, und die Bauten, die noch aus römischen Zeiten standen, waren nur noch Ruinen, in denen die Ziegen grasten. Schon damals versuchten die Sachsen, Britannien zu erobern, und als sie schließlich in Londinium einfielen, war das Schicksal dieser Stadt besiegelt. Wir mussten nach Westen fliehen. Alles ließen wir zurück, mit Ausnahme der umfangreichen Bibliothek meines Vaters. Du hast sie gesehen, sie befindet sich heute in Merlins Turm.“
„Aber wenn ihr es bis Camelot geschafft habt, wo ist dann deine Familie?“, fragte Gwyn.
„Sie ist tot“, sagte Katlyn so leise, dass er sie kaum verstehen konnte. „Mit all den Karren kamen wir nur sehr langsam voran. Es war nur eine Frage der Zeit, bis uns die Sachsen eingeholt hatten. Ich kann mich an den Überfall nicht mehr erinnern, dazu war ich noch zu klein. Merlin und einige Ritter der Tafelrunde, die plötzlich auftauchten, konnten im letzten Moment verhindern, dass die Sachsen auch mich töteten.“ Ihre Stimme zitterte, als sie weitererzählte. „Mein Vater, meine Mutter und meine älteren Geschwister, sie alle starben bei dem Angriff.“
Gwyn schwieg betreten, als Katlyn in Tränen ausbrach. Sie hatte alles verloren, nur die Bücher waren als bitteres Erbe übrig geblieben. Hätte ihr Vater die Bibliothek in Londinium zurückgelassen, würde ihre Familie wahrscheinlich noch leben.
Katlyn hatte sich wieder gefangen, als sie fortfuhr. „Artur erinnerte sich an meinen Großvater und was er für Uther Pendragon getan hatte. So nahm er mich wie eine Tochter auf und machte mich später zu Aileens Zofe.“
„Aber ihr seid keine Freundinnen“, sagte Gwyn. Er erinnerte sich wieder an seine erste Begegnung mit den beiden Mädchen, unten im kleinen Wäldchen, als er die Wildschweinrotte vertrieben hatte. Aileen hatte Katlyn wie eine Dienerin und nicht wie eine Vertraute behandelt.
„Nein, das sind wir nicht“, gab Katlyn zu. „Aileen hat keine Freunde.“
„Und Rowan?“
Katlyn schaute Gwyn mit einer Mischung aus Mitgefühl und Belustigung an, als ahnte sie, was er für die Prinzessin empfand. „Das ist etwas anderes. Aileen und Rowan sind Camelots Zukunft. Wenn Artur eines Tages abtritt, werden sie ihm auf den Thron folgen.“ Es klang, als würde sie die beiden kein Stück um ihr Schicksal beneiden.
Gwyn hatte Schwierigkeiten, sich Rowan als König an Aileens Seite vorzustellen. Er vermisste an seinem grüblerischen Freund die Durchsetzungsfähigkeit, die seiner Meinung nach einen König auszeichnen sollte. Rowan war ein großartiger, verantwortungsvoller Freund, aber würde er sich auch als Herrscher behaupten können, der manchmal schwierige, vielleicht
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