Gwydion 02 - Die Macht des Grals
Moment dachte er, eine alte Frau zu sehen. Er blinzelte und sah auf einmal ein Mädchen, nicht älter als er, das sich langsam in eine reife Frau verwandelte, nur um als Greisin wieder vor ihm zu stehen.
Einer der Bären bemerkte Gwyn und kam langsam auf ihn zu. Es lag keine Bösartigkeit in seinen wachen Augen und doch wusste Gwyn, dass er gehen musste. Er wandte sich um und ohne einen Blick zurückzuwerfen ging er wieder zur Höhle, in der Rowan noch immer fest schlief.
Gwyn wickelte sich wieder in seine Decke ein. Er hatte diese Bilder, die wie lebendige Tätowierungen Cundries Körper bedeckten, schon einmal gesehen. Doch wo?
Merlin, kam es ihm plötzlich in den Sinn, Merlin in Tintagel. Als sie ihn befreiten, hatte Gwyn auf dessen Körper für einen kurzen Moment dieselben Bilder gesehen. Was verband den Ratgeber des Königs mit Cundrie? Welchen Gefallen mochte sie ihm noch schuldig sein? Vor seinen Augen begannen die Tiere miteinander zu kämpfen. Und in ihrer Mitte war das Einhorn, das den Drachen tötete.
Am anderen Morgen erwachten Gwyn und Rowan erfrischt aus einem Schlaf, der ihrem Gefühl nach mehr als nur einen Tag und eine Nacht gedauert haben musste. Rowans düstere Laune war verflogen. Vergessen war der Streit, den sie im Moor gehabt hatten. Und auch in Gwyn klang das Lied der vergangenen Nacht nach. Zufrieden und ausgeruht saßen sie nun am Tisch und aßen von dem frischen Brot, das Cundrie früh im Licht der aufgehenden Sonne gebacken hatte. Dazu tranken sie kühles Wasser, das die letzten Erinnerungen an den Durst, der sie seit ihrer Ankunft im Wüsten Land gequält hatte, fortspülte.
Wie am Tag zuvor leistete ihnen Cundrie zwar Gesellschaft, doch saß sie wieder abseits im Dunkel der Höhle auf ihrem kleinen Schemel, reglos wie eine Puppe.
„Ich habe euch die von Merlin gewünschten Zutaten zusammen mit eurem Proviant in die Satteltaschen gepackt“, sagte sie mit ihrer irritierend jungen und lebendigen Stimme.
Rowan wischte mit dem letzten Stück Brot seinen Teller aus. „Wie werden wir den Wald verlassen können und den Weg nach Camelot finden?“
„Folgt den Raben, sie kennen den Weg“, sagte Cundrie.
Rowan stöhnte. „Hoffentlich schlagen sie nicht wieder solch ein höllisches Tempo an.“
„Sei beruhigt, das werden sie nicht. Obwohl ich euch trotzdem zur Eile rate, denn Lancelots Leben hängt nur noch an einem seidenen Faden. Das Gift, das in seinem Körper wütet, ist zu stark, als dass er sich noch lange dagegen wehren könnte.“
Rowan schob den Stuhl zurück und stand auf. „Dann sollten wir keine Zeit verlieren.“
Auch Gwyn erhob sich. „Habt Dank für Eure Gastfreundschaft.“
„Es war mir eine Ehre, dich bei mir beherbergen zu dürfen“, erwiderte Cundrie.
Rowan erwähnte sie nicht. Gwyn warf einen hastigen Blick auf seinen Gefährten, der Schwert und Schild vom Haken nahm, seinen Rock gürtete und wieder seine Stiefel anzog. Dann drehte er sich auf der Schwelle zur Höhle noch einmal um und verneigte sich. „Auch Dank von meiner Seite, Heilerin.“ Ohne eine Antwort abzuwarten ging er davon.
„Ein wütender junger Mann“, sagte Cundrie. „Voller Hass und Selbstzweifel.“
„Rowan voller Hass?“, fragte Gwyn überrascht und auch ein wenig amüsiert.
„Oh, er hält seine dunklen Gefühle sehr gut im Zaum. Vielleicht spürt er sie noch nicht einmal, aber sie sind da.“ Cundrie stand auf und trat zu ihm. Ihr Haar verströmte den Duft von Harz, Beeren und Waldblumen, der Gwyn an einen reichen Sommertag erinnerte. „Erzähle mir von der Nacht in Goons Festung.“
„Nun, es gibt nicht viel zu berichten“, stotterte Gwyn, der spürte, wie er sich in diesem Duft verlor. „Alles, was ich dort erlebte, geschah unter dem Eindruck dieser seltsamen Dämpfe, die den Geist verwirren.“
Cundrie strich ihm sanft über die Stirn. Gwyn spürte dabei ein eigenartiges Prickeln.
„Goon Desert ist ein direkter Nachfahre eines sagenhaften Königs, einem Riesen mit dem Namen Bran Fendigaid.“
Gwyn zuckte zusammen, als er den Namen hörte. „Ja, ihm bin ich in meinen Träumen begegnet.“
„König Bran war der Hüter eines Schatzes, den er von einem Mann erhalten hatte, der aus einem fernen Land jenseits der südlichen Meere gekommen war. Dieser Schatz hatte die Form einer Schale, die sich wie ein Füllhorn niemals leerte und die ihrem Besitzer ewiges Leben schenkte.“
„Der Gral“, flüsterte Gwyn, der sich wieder an die Tafel erinnerte, an der der
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