Gwydion 04 - Merlins Vermächtnis
Die Bilder, die er sah, erinnerten ihn an jene beklemmende Vision, die ihn bei seiner ersten Begegnung mit Merlin, dem Ratgeber König Arturs, wie aus dem Nichts überkommen hatte.
„Möchtest du mir nicht sagen, was dich bedrückt?“, fragte Katlyn vorsichtig. „Manchmal hilft es, wenn man mit einem anderen Menschen seine Sorgen teilen kann.“
Gwyn hob die Augenbrauen und versuchte zu lächeln.
„Es tut mir leid“, sagte er und berührte sanft ihre Hand. „Ich möchte nicht abweisend sein, aber du wirst mir nicht helfen können. Diese Träume lassen sich nicht so ohne Weiteres vertreiben. Manchmal erscheint es mir, als führten sie ein ziemlich hartnäckiges Eigenleben.“ Gwyn lächelte verlegen und betrachtete Katlyn im Licht der aufgehenden Sonne genauer. Sie alle hatten in den vergangenen Wochen und Monaten viel durchmachen müssen. Aber während bei Lancelot, Tristan oder Degore die Eindrücke der zurückliegenden Ereignisse offenbar keinerlei Spuren hinterlassen hatten, war in Katlyn eine Veränderung vonstatten gegangen, die Gwyn erstaunte. Ihr häufiges Erröten hatte sich vollständig gelegt und war einem selbstsicheren, keinesfalls anmaßenden oder gar abweisenden Auftreten gewichen. Auch jetzt scheute sie Gwyns musternden Blick nicht, sondern erwiderte ihn mit belustigter Neugierde.
„Stimmt etwas nicht mit meinem Gesicht?“, fragte sie und fuhr sich durch das blonde Haar, das im Licht der Morgensonne Feuer zu fangen schien.
„Nein“, sagte Gwyn. „Ganz und gar nicht.“
Wie alle anderen wusste auch Katlyn nicht, was der nächste Tag für sie bereithalten würde, doch schien sie dieser Umstand weniger zu belasten als Gwyn. Sie war unbekümmert, klagte nie, sondern tat stets, ohne zu zögern, das, was getan werden musste. Ihre ganze Körperhaltung war straffer geworden. Wenn sie ritt, konnte man glauben, sie hätte den größten Teil ihres Lebens auf dem Rücken eines Pferdes verbracht. Wenn sie saß, ging oder stand, dann tat sie selbst dies mit einer beinahe königlichen Anmut, die weder gewollt noch gekünstelt wirkte.
So schauten sie sich eine Zeit schweigend an, als ein Fluch sie zusammenfahren ließ.
„Oh, verdammt!“, rief Cecil und sprang auf. „Es ist ja bereits Morgen!“
„In der Tat“, sagte Gwyn und runzelte die Stirn – weniger, weil ihn die Nachlässigkeit seines Gefährten ärgerte, sondern vielmehr weil dieser kostbare Moment der Innigkeit so schnell verstrichen war. Gwyn stand seufzend auf und drückte den schmerzenden Rücken durch. Er gab Cecil einen Klaps auf die Schulter. „Ist schon gut. Es ist ja nichts passiert.“
„Gwyn, deine heitere Gelassenheit ist vollkommen unangebracht“, knurrte Lancelot, der nun ebenfalls erwacht war und sich sein Schwert umgürtete. Wie immer hatten er, Tristan und Degore die Nacht in ihren Stiefeln verbracht. „Wir sind tief in sächsischem Gebiet. Unser Leben ist keinen Pfifferling mehr wert, wenn man uns hier entdeckt.“ Mit einer energischen Bewegung zog er seinen Waffenrock gerade. Dann baute er sich vor Cecil auf, der wie ein Häuflein Elend zu dem Ritter aufblickte. Lancelot mochte vielleicht ein alter Mann sein, dessen schütteres Haupthaar ebenso wie der dichte Bart längst ergraut war, doch überragte er Sir Degores Knappen um mehr als anderthalb Köpfe.
„Es tut mir leid, Herr“, stammelte Cecil. „Ich verspreche Euch, es wird nicht wieder vorkommen.“
Lancelot brummte etwas Unverständliches und ging dann zu seinem Pferd. „Hier“, sagte er und warf dem eingeschüchterten Cecil vier zusammengeschnürte leere Lederschläuche zu. „Geh und hole Wasser.“
„Ja, Herr“, antwortete Cecil eifrig und eilte den Hang hinunter zu einem kleinen Fluss, der sich leise plätschernd durch eine Talmulde wand.
„Wenn man Lancelot so zuhört, könnte man fast glauben, es mit Sir Kay zu tun zu haben“, sagte Katlyn. Beim Gedanken an Rowans Vater, den einstigen Hofmeister Camelots, schüttelte sie kaum merklich den Kopf.
„Kein Wunder, dass die beiden solch ein Hass verband. Sie waren sich wohl einfach zu ähnlich“, flüsterte Gwyn.
„Zumindest, was Dinge wie Ordnung und Disziplin angeht“, schränkte Katlyn ein. „Im Umgang mit Menschen hingegen hätten sie unterschiedlicher nicht sein können.“ Sie nickte in Rowans Richtung, der in den letzten Tagen ganz offensichtlich die Nähe zu Arturs erstem Ritter gesucht hatte. „Sieht so aus, als hätte Rowan in Lancelot endlich den väterlichen Freund
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