H2O
reichen.
»Pierre Sénéchal, Inspektor und zoreil.«
Zoreil war der Ausdruck der kreolischen Inselbewohner für weiße, europäische Franzosen. Die korpulente Dame lachte schallend. Ihre Zähne waren von einem unglaublichen, fast unnatürlichen Weiß. In ihrem auffallend dunklen Gesicht wirkte ihre Zunge bonbonrosa.
»Na, wenigstens kommen Sie ohne Umschweife zur Sache ... Was verschafft mir die Ehre Ihres Besuchs? Die Polizei hat mir bereits alle nur erdenklichen Fragen zu dem Mann gestellt, der an jenem Abend bei mir aufgetaucht ist. Falls Sie also aus diesem Grund hier sind ...«
Sie beäugte ihn misstrauisch.
»Aber vielleicht dürfte ich Ihren Ausweis sehen, Inspektor?«
Sénéchal reichte ihr seine Karte. Aus der Tasche ihrer Wolljacke kramte sie eine kleine zerkratzte Brille hervor, die sie bedächtig aufsetzte. Dann studierte sie sein Foto.
»Auf diesem Bild sehen Sie kleiner aus. Aber der Piratenkopf ist unverkennbar der gleiche ... Ach, gibt es jetzt auch eine Umweltpolizei? Wollen Sie wissen, ob ich bei meinem Zuckerrohr Pestizide einsetze? Nein, Monsieur, das tue ich nicht ... Sagen Sie mal, haben alle Polizisten Ihrer Behörde solche Hosenträger wie Sie? Fürchtet ihr, dass euch die Hosen auf die Schuhe rutschen?«
Sénéchal, dem die fröhliche, unverblümte Art der Insulaner noch nicht vertraut war, stand einen Moment sprachlos da. Dann musste er lachen.
»Darf ich kurz hereinkommen?«
»Immer hereinspaziert, die Witwe Hoareau hat nichts zu verbergen.«
Die beleibte Dame legte ihre Arbeit zur Seite, erhob sich schnaufend, strich ihr Baumwollkleid glatt und ging mit schleppenden Schritten ins Haus. Sénéchal folgte ihr in ein schmuckes Wohnzimmer. An den Wänden hingen zahlreiche Fotografien von Tanzorchestern oder Sängern beiderlei Geschlechts, von denen die meisten mit weit geöffnetem Mund verzückt die Augen zum Himmel verdrehten. An der Längsseite des Raumes befand sich eine kleine Hammondorgel. Auf einer türlosen, mit alten Schallplatten vollgestopften Anrichte stand ein Grammofon mit einem sorgfältig polierten Schalltrichter, umgeben von schlichten und verzierten Spieldosen in sämtlichen Formen und Größen, alle mit einem Schlüssel oder einer winzigen Kurbel zum Aufziehen ausgestattet. Auf einer thronte eine Tänzerin aus Weißblech, die sich sicherlich zur Musik drehte. Auf einer anderen sah man einen ausgestreckten Tiger, unter dem ein Soldat in roter Uniform lag.
Sénéchal deutete mit dem Finger darauf.
»Welches Stück spielt denn diese kleine Spieldose hier?«
»Sie trägt den englischen Namen Tipu's Tiger und ist in Indien sehr beliebt. Die Dose symbolisiert den Sieg des indischen Volkes über das britische Empire: ein englischer Soldat, dem gerade ein Tiger die Kehle durchbeißt. Wenn man sie aufzieht, hört man das Gebrüll des Tigers und die qualvollen Schreie des Opfers.«
»Wie reizend.«
»Nicht wahr, es ist besser, sich hier zu unterhalten? Auf der Wränge ist es sowieso zu heiß!«
»Wränge?«
»Offenbar haben Sie mir nichts vorgeflunkert: Sie sind tatsächlich ein Zoreil. Sonst wüssten Sie, dass man hier Wränge zur Veranda sagt. Zu dem Ort, wo ich seit meiner Pensionierung den größten Teil des Tages verbringe, um meine Hüte zu machen.« Sie wies auf einen der beiden Stühle vor einem Tisch mit einem Tuch in kräftigen Farben, auf dem ein filigranes besticktes Deckchen lag. »Nehmen Sie doch Platz.«
Sénéchal kam der Aufforderung nach.
»Für eine Rentnerin sind Sie noch sehr jung.«
»Nationales Bildungswesen.«
»Und, ähm, welche Fächer haben Sie unterrichtet?«
»Literatur und Musik ... Musik unterrichte ich bisweilen immer noch, außerdem gebe ich Kindern Privatstunden. Ich versuche, die alten Volkslieder lebendig zu halten. Kennen Sie Ti fleur fanée?«
»Ich fürchte nein.«
»Ich singe es Ihnen ein andermal vor ... Ich nehme die Lieder auf Kassette auf, damit sie nicht in Vergessenheit geraten. Das ist wichtig.«
Erklärend fügte sie hinzu: »In meinen Augen. Aber den meisten ist das heutzutage vollkommen egal.«
Sie setzte sich ihm gegenüber hin und musterte ihn schweigend. Wie Sénéchal feststellte, hatte sie ihn so platziert, dass er im Schein des durch das Fenster hereinfallenden Lichts saß, während sie im Dunkeln blieb.
»Welche Fragen, die den anderen Polizisten noch nicht eingefallen sind, wollen Sie mir zu diesem mir völlig unbekannten Mann stellen?«
Sénéchal schmunzelte:
»Diese hier: Was bedeutet Ihrer
Weitere Kostenlose Bücher