H2O
Nachts weinte er in seinem Schlafzimmer. Am Ende schlief meine Mutter dort auf einem Feldbett. Er hatte schreckliche Albträume. Manchmal gab sie ihm Schlafmittel, wie ihr der Arzt geraten hatte, und Sedativa, doch das nützte alles nichts ... Da gab sie ihm Kampferpomade.«
»Kampferpomade? «
»Bei uns behandelt man alles mit Kampferpomade. Chinesische Medizin. Das beruhigt. Fördert den Schlaf. Ich habe es im Laden nebenan gekauft. Meine Mutter hat sich den größten Teil der Nacht um ihn gekümmert. Die Arme. Und er musste trotzdem arbeiten. Ständig sprach er von ...« Lang suchte nach Worten. »... Chimären, die ihn verfolgten. Die ihn in seinen Träumen heimsuchten.«
Der Regen hörte so unvermittelt auf, wie er begonnen hatte.
»Chimären ... du weißt nicht zufällig, was er damit meinte?«
»Wissen Sie, am Ende hat er meine Mutter und mich nicht mehr erkannt. Er sah unsichtbare Dinge und Menschen ... bevor ... bevor ...«
Plötzlich krümmte sich Lang, als hätte er einen Schlag in die Magengegend bekommen, der Schirm fiel ihm aus der Hand, und sein Gesicht verzerrte sich vor Schmerz. Tränen strömten ihm über die Wangen. Er holte Luft und stieß einen Schrei aus. Sénéchal hielt ihn fest, damit er nicht hinfiel, die Dose mit den Schuhen rollte auf den Fluss zu. Der Junge schrie erneut auf und presste dann beide Hände auf den Mund.
Der Umweltinspektor begriff, dass Lang ohne Vorwarnung von seinem Kummer überwältigt worden war, hier auf dem regendurchweichten Weg, vor einem ratlosen Fremden.
26
Als sie das Haus der Mahakams erreichten, war es bereits dunkel. Sénéchal sah den schwarzen Geländewagen, der ein Stück entfernt auf dem Bürgersteig parkte. Als die Mutter die Tür öffnete, wandte der Junge das Gesicht ab. Sénéchal aber sah, wie sie ihrem Sohn einen forschenden Blick zuwarf. Obwohl er hastig die Treppe hinaufeilte, waren ihr sein zerzaustes Haar und die geröteten Augen nicht entgangen. Sie hörten, wie die Tür seines Zimmers zuschlug.
Beide schwiegen betreten. Dann bat die Witwe Sénéchal ins Wohnzimmer, nahm ihm gegenüber Platz und wartete, dass er zu sprechen begann. Ihre Augen wanderten zu dem leeren Sessel, und Sénéchal spürte, wie sehr sie unter der Abwesenheit ihres Mannes litt. Er zeigte ihr den Inhalt der schlammverschmierten Dose. Beim Anblick der schimmelbedeckten Schuhe senkte sie den Kopf und erklärte ihm, die Schuhe gehörten nicht in die Dose, offenbar hätten die Kinder auf der Halde beides unabhängig voneinander gefunden, selbst wenn es zugleich weggeworfen wurde. Bestimmt hätten die kleinen Zwangsarbeiter, die zum Überleben in den stinkenden Müllbergen wühlen mussten, den ursprünglichen Inhalt der Dose an sich genommen und womöglich weiterverkauft.
Als sie die schwarzen Kiesel sah, schüttelte sie traurig den Kopf.
»Ich kenne sie nur allzu gut ... Eines Tages hat mein Mann sie aus dem Büro mitgebracht. Sie hatten etwas mit seinem verschwundenen Freund zu tun. Mit einer Arbeit, die sie gemeinsam begonnen hatten.«
»Was für eine Arbeit?«
»Irgendein Projekt. Doch ich weiß nichts Näheres.«
»Hing es mit seiner Tätigkeit für das UNEP zusammen, oder war es ein persönliches Projekt?«
»Mehr kann ich Ihnen leider nicht sagen. Oft brachte er Akten mit nach Hause. Und sein Freund, Monsieur Rhaddiaunir, kam und plauderte mit ihm. Vermutlich über die Arbeit. Sie schlossen sich ein, tranken Tee und diskutierten.«
»Haben Sie ihnen den Tee gebracht?«
»Nein, das machte die Zugehfrau ...«
»Glauben Sie, es gibt da einen Zusammenhang zu dem Konflikt mit seinem japanischen Kollegen?«
Die Frau schwieg. Ihr Gesicht wirkte undurchdringlich. Schließlich zuckte sie mit den Schultern.
»Was für ein Mensch war dieser Rhaddiaunir?«
»Er war sehr nervös. Ständig in Bewegung. Immer tränende Augen. Eine Geste war typisch für ihn.«
»Welche? «
»Er rieb - oder besser tupfte - sich mit einem blauen Taschentuch die Augen.«
»War er ein trauriger Mensch?«
»Nein. Nein.« Ihr Blick streifte den leeren Sessel. »Nein, ich würde eher sagen, er war ein ... ein verängstigter Mensch. Ja, genau. Verängstigt.«
»Und Doktor Dusung?«
Sie schnitt eine verächtliche Grimasse.
»Ein Idiot. Aber mein Mann vertraute ihm. Er kam aus Timor. Er hat viel durchmachen müssen. Vor mir ist er gekrochen wie ein Hund. Er war völlig unfähig.«
Auf ihrem Gesicht malte sich Zorn, der dann einem Ausdruck von Schmerz wich.
»Und was war mit
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