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H2O

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Titel: H2O Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patric Nottret
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diesen Kieseln, Madame Mahakam? Sie sagten, Sie würden sie nur allzu gut kennen?«
    Sie stieß einen Seufzer aus.
    »Als Shafik krank wurde«, zum ersten Mal sprach sie den Vornamen ihres Mannes aus, »hatte er diese Steine immer in seiner Tasche.« Sie presste die Hände auf die Ohren. »Dieses Geräusch machte mich verrückt ... Ständig bewegte er die Kiesel in seiner Tasche. Er konnte nicht anders ... Und ich war machtlos dagegen.«
    »Hat Lang die Steine nie gesehen?«, wollte Sénéchal wissen.
    »Lang war die meiste Zeit an der Universität. Ich habe versucht, ihn von all dem fernzuhalten.«
    Sénéchal zog den milchigen Stein aus seiner Tasche und reichte ihn ihr.
    »Gehört der zu den anderen?«
    Madame Mahakam nahm ihn in die Hand und betrachtete ihn, den Kopf leicht zurückgeneigt.
    »Ich habe ihn nie gesehen, doch seine Form erinnert mich an etwas ...«
    »Er war auf der Mülldeponie. Doch vielleicht gehörte er ja nicht zu den Sachen Ihres Mannes.«
    Sie zögerte.
    »Es ist möglich, dass er mit dem Rest weggeworfen wurde. Ich habe nicht alles genau angeschaut. Ich wollte wirklich ...« Sie holte tief Luft. »Ich wollte wirklich, dass ...«
    Sie machte eine hilflose Geste und wollte dem Umweltinspektor den Stein zurückgeben. Doch dann schloss sich ihre Hand fest darum. Sie wog ihn langsam, hielt ihn vors Gesicht, drehte und betrachtete ihn genauer. Neugierig kratzte sie mit ihrem rechteckigen Nagel an der Oberfläche und erklärte:
    »Das ist kein Kiesel. Das ist ein anderes Material.«
 
    Sénéchal sah auf die Uhr. Er musste nach Jakarta zurück. Er berichtete Madame Mahakam, dass er Lang Geld für den Jungen von der Deponie gegeben habe. Falls der Halbwüchsige irgendetwas finden würde - Papiere oder Gegenstände, die für die Ermittlungen von Nutzen sein konnten -, solle sie es per Express (und Einschreiben) an die Adresse schicken, die der Inspektor nun in Druckschrift auf ein zerknittertes Stück Papier malte (FREDE, Labor, z. Hd. Monsieur Méjaville ...).
    Dann sprach er einen heiklen Punkt an.
    »Lang hat mir von Chimären erzählt. Haben Sie eine Idee, was damit gemeint sein könnte?«
    Die Witwe sah ihn einen Moment schweigend an. Ihr Gesichtsausdruck wirkte rätselhaft. Schließlich sagte sie langsam:
    »Er behauptete, er würde von Chimären heimgesucht. Eine Chimäre würde ihn verfolgen.«
    »Chimären oder eine Chimäre?«
    Sie zuckte die Achseln.
    »Er hatte eben Wahnvorstellungen.«
 
    Der Umweltinspektor trat vor die Tür. Am Himmel zeichnete sich der Schein der fernen Lichter des Straßenverkehrs ab. Insekten schwirrten um die Laternen, und die Frösche im Gebüsch veranstalteten ihr nächtliches Konzert. Er drückte die Hand der weißhaarigen Frau, die unbewegt auf der Schwelle stand. Der obere Teil ihres Gesichts lag im Schatten. Plötzlich schien sie ihre Teilnahmslosigkeit abzulegen.
    »Ich weiß nicht, was Sie suchen, Inspektor. Vielleicht wissen Sie es selbst nicht ... Ich fürchte, Sie haben die lange Reise umsonst gemacht. Shafik glaubte nicht an Zauber, an Magie. Trotzdem neigen wir Indonesier zum Aberglauben.« Sie betrachtete ihre Hände. »Zumindest nach westlichen Kriterien. Selbst die große moslemische Mehrheit ... Bei uns tanzen die Toten jede Nacht auf den Bergen und Reisfeldern. Shafik lehnte solchen Dämonenglauben ab. Trotzdem hat er die anderen stets zum Erhalt der alten Riten ermuntert. Und unsere Götter, von denen es unzählige gibt, hat er immer verehrt. Habe ich Ihnen erzählt, dass er das Unglück hatte, in Osttimor geboren zu sein? Manchmal denke ich, er wurde verhext. Und deshalb konnten ihn die Arzte nicht heilen. Auch nicht die Götter. Ich habe ihn bestattet. Das ist alles.«
    »Es tut mir sehr leid ... Aber wenn Ihnen noch etwas einfällt, zögern Sie bitte nicht, mich anzurufen - zu jeder Tagesund Nachtzeit.« Er reichte ihr seine Karte. »Sollte Monsieur Rhaddiaunir wiederauftauchen, dann geben Sie ihm dies. Vielleicht möchte er lieber mit einem Ausländer als mit der Polizei reden. Oder mit der Nationalen Sicherheitsbehörde.«
    Madame Mahakam nickte, als hätte er ihr das schon tausendmal gesagt. Dann beugte sie sich vor und raunte ihm zu:
    »Ist Ihnen noch nie der Gedanke gekommen, dass unsichtbare Wesen von ganz anderer Natur als wir sich im Schatten einen endlosen, gnadenlosen Kampf liefern könnten?«
    Sie lächelte ihn plötzlich an. Ein bezauberndes Lächeln, das ihr Gesicht wie das eines Kindes strahlen ließ. Sénéchal war verblüfft.

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