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H2O

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Titel: H2O Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patric Nottret
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gerne, ob der Revolver, den sie im Tümpel gefunden haben ...«
    Er verstummt, als er den fassungslosen Ausdruck in Thamnirs Gesicht gewahrt. Oben auf dem Hang, den sie gerade hinauffahren, steht der Lastwagen jetzt quer und versperrt ihnen den Weg. Wie in einem Traum gleiten die riesigen Baumstämme im Zeitlupentempo von der Ladefläche, prallen vom Boden ab und rollen mit wachsender Geschwindigkeit auf sie zu.
    Mit einem Lärm, der einem Donnergrollen gleicht.
    Sankaran gibt Vollgas.

61
 
 
 
    »Siehst du, Pierre«, sagte Lucrèce am Telefon, »ich habe nachgedacht. Als ich dir erzählte, dass dieser arme UNEP-Delegierte vergiftet worden ist, fragtest du mich, ob das Gift des Kugelfisches auch eine Droge enthält, die Wahnsinn auslösen kann. Das habe ich etwas voreilig verneint. Anschließend habe ich mich eingehender mit der Pflanze namens Duboisia beschäftigt, aus der die Kanaken ein Gegengift für das Tetrodotoxin herstellen. Ich habe unsere Freundin Lou, die Ethnobotanikerin, um Rat gefragt. Und siehe da, sie hat mir erklärt, die Duboisia hätte eine bekanntere Verwandte, die Datura.«
    »Datura? Aber von der habe ich schon gehört, die wird hier als ›Teufelskraut‹ bezeichnet. Wuchert auf der ganzen Insel wie Unkraut, hat gelbe, trompetenförmige Blüten, sehr schön. Aber das ist doch Gift und kein Gegengift!«
    Langsam, langsam, erinnere dich an das, was ich dir ständig einzutrichtern versuche: Gift ist stets eine Frage der verabreichten Dosis ...
    »Hm! Auf Réunion wird die Datura in geringen Mengen als Heilmittel bei Husten, Asthma, Rheuma und Magenschmerzen verordnet. Mit den getrockneten Blättern macht man, glaube ich, Inhalationen. Bei äußerer Anwendung soll sie nach dem hiesigen Volksglauben vor Unfällen schützen.«
    »Woher weißt du das alles?«
    »Meine Vermieterin hat mir eines Abends eine Botaniklektion erteilt.«
    »Lou zufolge verwendeten die Magier schon im Mittelalter die Datura. Auf der ganzen Welt gilt sie als eine Pflanze, die Wahnsinn auslöst. Sie enthält ein sehr starkes Gift, und zwei ihrer aktiven Substanzen sind Scopolamin und Atropin. Scopolamin ist nichts anderes als die berühmte ›Wahrheitsdroge‹, die man aus Spionagefilmen kennt.«
    »Amüsant.«
    »Aber erst kürzlich hat man entdeckt, dass die Pflanze eine weitere Substanz enthält, ein Peptid, das unheilvolle Auswirkungen auf das Gedächtnis hat.«
    »Stopp! Was ist Atropin?«
    »Ein Alkaloid, das man bei uns auch in der Tollkirsche findet. In kleinen Dosen wirkt es krampflösend. Manchmal wird Atropin als Medikament eingesetzt, unter anderem bei kardiologischen Erkrankungen, um den Herzrhythmus zu beschleunigen. Die Augenärzte träufeln es ins Auge, um vor bestimmten Untersuchungen die Pupille zu vergrößern.«
    »Augenärzte?«
    »Genau. Und die hübschen Italienerinnen benutzten es früher, um einen strahlenden Blick zu bekommen, daher auch der lateinische Name Belladonna ... Willst du wissen, woher der Name Atropin kommt?«
    »Ich vergehe vor Neugier.«
    »Das wird dich erfreuen: Atropos war der Name der dritten Parze in der griechischen Mythologie. Sie schneidet den Lebensfaden ab. Die Parzen sind die Schicksalsgöttinnen, auch Moiren genannt. Moira ist das Schicksal. Der Tod.«

62
 
 
 
    Edouardo hängt mit dem Kopf nach unten. Der Sicherheitsgurt schneidet in seinen Hals, und er nimmt nur schwach die Aufschlaggeräusche wahr. Er ist benommen, sein Kopf ist gegen den Türrahmen geprallt. Vielleicht auch gegen den Sicherheitsbügel. Er sieht Zweige und Blätter an der Windschutzscheibe vorbeirauschen, dort, wo eigentlich der Himmel sein müsste. Sonderbar ... Peng! Ein weiterer Aufprall. Die Windschutzscheibe wird undurchsichtig, alles dreht sich. Er wird durchgeschüttelt wie in einer Waschmaschine. Peng! Eine Runde in die andere Richtung ...
    Verständnislos starrt er auf das Armaturenbrett und das Wort »Airbag«. Irgendetwas stimmt mit diesem Wort nicht, aber er kann sich nicht erinnern, was. Er möchte schlafen ... Jemand benetzt seine Hand. Er führt sie an seine Augen. Sie ist blutbeschmiert. Aus den Augenwinkeln sieht er das blutende Gesicht von Oberleutnant Sankaran; seine Arme hängen ins Leere und bewegen sich in einem eigenartigen Rhythmus, das Blut tropft auf die Windschutzscheibe, auf ihn ... Ein lauter, dumpfer Knall, dann Stille.
    Fast im selben Augenblick setzt sich die Klimaanlage surrend in Gang. Gleichzeitig beginnt das Gedächtnis des kleinen Polizisten wieder zu

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