Haarmanns Kopf
jungen Mann schlendern. Auf und ab. Hin und her. Er ging auf ihn zu. Ihre Blicke fanden sich, flüchtig, verschämt.
So ein Augenblick reicht nicht, dachte er und wartete auf ein Lächeln.
Ein Lächeln wäre ein Zeichen des Jungen gewesen. Der stand da, angelehnt am Schaufenster, auf einem Bein, das zweite angewinkelt, Fuß am Fenster, cooler Blick. Dann lächelte er.
Der Junge hieß Stefan. Später erzählte er ihm, dass er in Bremen aufgewachsen war. Wie der Vater zuschlug, erst mit der Hand, dann mit der Faust. Dass er die Sonderschule besucht hatte, gegen seine Konzentrationsschwäche gekämpft und verloren hatte.
Stefan erzählte ihm von dem Sommer, in dem er fünfzehn wurde. In jenem Sommer betrat er eine neue Welt: die der Freier und Stricher. Später zog er von Stadt zu Stadt, bis er in Hannover hängenblieb.
Er hörte dem Jungen lange zu. Während er seinen Wagen nachhause steuerte, saß Stefan neben ihm und erzählte ihm über sein Leben, seine Sorgen und seine Ängste. Es entwickelte sich schnell so etwas wie Vertrauen und er genoss die Rolle des Zuhörers. Doch in seinen Gedanken war er schon einen Schritt weiter. Für seine sexuellen Dienste hatte er Stefan fünfzig Euro, ein Bett, Duschen und Wäsche versprochen. Ähnlich hatte es Haarmann damals mit seinen Opfern gemacht. Und er bekam immer das, was er sich wünschte.
In derselben Nacht tötete er zum ersten Mal.
Nur berühren, hatte Stefan gesagt. Für fünfzig Euro nur berühren.
Er hatte zugestimmt und den Geldschein auf den Nachttisch gelegt. Dann hatte er ihm gesagt, dass er noch mal einen Fünfziger drauflegt, wenn er ihn liebkosen und küssen durfte. Stefan war einverstanden. Als er so erregt dalag, beugte er sich über ihn und küsste zärtlich seinen Hals. Immer wieder.
Dann biss er zu – mit aller Kraft.
Zentimetertief gruben sich seine Zähne in Stefans Hals, der verzweifelt nach Luft rang und mit Armen und Beinen strampelte.
Schneller als erwartet versiegte seine Gegenwehr.
Er löste sich langsam von seinem Opfer und entspannte seine Kaumuskeln. Seine blutüberströmten Lippen bebten, seine Hände zitterten. Nie hätte er für möglich gehalten, dass es ihm solch große Freunde und ein solches Glück bereiten würde, jemanden zu töten.
Stefan lag mit weit aufgerissenen Augen da. Sekundenlang hielt er den jugendlichen Körper Stefans umschlungen, berührte ihn zärtlich und schaute ihm lange in die Augen. Jetzt erst entspannte er sich langsam und konnte so tiefe Genugtuung und Zufriedenheit empfinden, wie einst seit großes Vorbild Haarmann. Doch so sehr er diesen Akt der Befriedigung auch genossen hatte, er vermisste etwas. Erst später wurde ihm klar, dass es ihm bei dieser Vorgehensweise nicht möglich war, im Augenblick des Todes seinem Opfer in die Augen zu schauen.
Das machte ihn traurig.
Die Wunde an Stefans Hals blutete stark. Er hatte ihn an der Halsschlagader verletzt. Das Kopfkissen unter Stefans Kopf färbte sich rot. Am nächsten Tag würde er das Kissen und die gesamte Bettwäsche entsorgen. Ebenso den toten Stefan. Niemand würde ihn vermissen oder nach ihm fragen.
Noch bis zum nächsten Morgen blieb er neben dem Toten liegen. Immer wieder streichelte und liebkoste er ihn. Jetzt gehörte er ihm – ganz allein.
Am nächsten Tag stand die Feuerbestattung eines Verstorbenen an, den er vor zwei Tagen für die Beisetzung vorbereitet hatte. Bei dem Toten handelte es sich um einen 80-järigen, alleinstehenden Mann. Auf dem Weg zum Krematorium nach Holzminden hielt er vor der Rückseite seines Hauses und legte den toten Stefan zu dem Alten in den Sarg. Dann fuhr er zum Krematorium. Dem Mitarbeiter, den er seit Jahren kannte, sagte er, dass er wenig Zeit habe und er sich die vorgeschriebene zweite Identifizierung des Toten schenken könnte. Er wartete die Einäscherung ab und fuhr mit der Urne zum Friedhof nach Neuhaus, wo sie in aller Stille beigesetzt wurde.
Das war der erste Mord des Präparators. Es sollte nicht der letzte sein.
Das mit Stefan war lange her, doch die Erinnerung an sein erstes Opfer hielt er wach. Dabei half ihm ein seltsames Andenken, das er in einem Schrank im Keller seines Hauses aufbewahrte. Gelegentlich nahm er einen durchsichtigen Behälter aus dem Schrank und stellte ihn auf einen Tisch, um dessen Inhalt zu betrachten.
Auf dem Boden des Behälters lagen in einer Formalinlösung die beiden Ohren Stefans, die er ihm mit einem scharfen Skalpell abgeschnitten hatte.
In der Folgezeit
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