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Haarmanns Kopf

Haarmanns Kopf

Titel: Haarmanns Kopf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roy Ebstein
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betraten, wurde ihm schnell klar, dass er sich an einem heiligen Ort befand. Es war eine Offenbarung für ihn, als sie durch die Gänge schlenderten, links und rechts einzigartige Präparate, darunter viele Ganzkörperplastinate, die durch den menschlichen Körper führten und auch dem Laien die einzelnen Organfunktionen sowie häufige Erkrankungen erklärten. Thematisch spezialisiert und mit spektakulären Plastinaten nahm die Ausstellung die Besucher mit auf eine spannende Reise unter die Haut. Dabei wurden die einzelnen Stationen der Entwicklung des menschlichen Körpers gezeigt und wie er sich im Laufe der Zeit veränderte – von der Zeugung bis ins hohe Alter hinein.
    Die Erregung und Freude, die er bei dem Anblick der Plastinate empfand, blieb auch dem Psychiater nicht verborgen. Noch während ihres Besuchs gab er unumwunden zu, dass er sich zu Leichen hingezogen fühlte und davon sexuell erregt wurde und dass der Tod für ihn ein Freund geworden war.
    Er liebte den Tod, sagte er.
    Ich kann keinen Sex mit lebenden Menschen haben, erklärte er später. Für mich muss ein Mensch, mit dem ich Sex habe, absolut rein sein. Er darf keine Persönlichkeit mehr besitzen. Es darf keine Beziehung zwischen ihm und mir bestehen.
    Der Psychiater hörte ihm ruhig zu und ermunterte ihn, sich ihm vollkommen zu offenbaren. Er solle sich keine Sorgen machen. Später erklärte der Psychiater ihm, dass seine Neigung nichts Verwerfliches war. Viel schlimmer wäre es, sich seinen Neigungen nicht zu stellen und diese nicht zu akzeptieren. Das Anderssein an sich sei kein Problem.
    „ Es sind nicht die Unterschiede, die uns trennen“, sagte der Psychiater. „Es ist die Unfähigkeit, diese Unterschiede zu erkennen, zu akzeptieren.“

 
    In den folgenden Wochen und Monaten folgten lange Gespräche, in denen ihm sein väterlicher Freund erklärte, dass es ein Widersprich sei, einen reinen Menschen zu begehren und mit diesem Sex haben zu wollen – und zugleich keine Beziehung zu ihm zu haben. Diese Ambivalenz müsse er auflösen.
    Je mehr er darüber nachdachte, desto stärker wuchs in ihm der Wunsch, genau dies zu tun: den Widerspruch aufzulösen.
    Er wollte eine Beziehung.
    Und er wollte töten.
    An einem kalten Winterabend schenkte ihm der Psychiater ein Buch über den Serienmörder Fritz Haarmann, das ihn sofort begeisterte und nicht mehr losließ. Fortan las er täglich darin, bis er ganze Passagen auswendig kannte. Er wollte mehr über diesen Mann erfahren, der unbehelligt und einem Trieb folgend mehr als zwanzig junge Männer ermordet, Teile von ihnen verspeist, ihr restliches Fleisch verarbeitet und verkauft und am Ende ihre Knochen in der Leine versenkt hatte.
    Haarmann war mehr als ein Killer. Ihn einfach als Serienmörder zu bezeichnen, wurde ihm nicht gerecht. Haarmann war zunächst wie eine Offenbarung für ihn, dann wurde er zur Inspiration. Er wollte so fühlen und denken wie Haarmann, eintauchen in seine Welt, hautnah spüren und ganz nah sein, wenn jemand sein Leben aushauchte. Wie sich ein Toter anfühlt, das wusste er. Doch wie sich die Haut eines Sterbenden anfühlt, der um sein Leben kämpft, das wusste er nicht. Die Toten, mit denen er bisher zu tun hatte, waren schon kalt, wenn er sie abholte.
    Kaltes Fleisch, gebrochene Pupillen, Unfallopfer mit Verletzungen. Daran hatte er sich im Laufe der Jahre gewöhnt.
    Jetzt wollte er mehr. Einen Toten, ganz für sich allein. Nicht einen, den er irgendwo abholte oder der geliefert wurde. Er wollte selber töten.

 
    So ergab es sich, dass er eines Abends nach Hannover fuhr, zum Hauptbahnhof. Genau wie einst Haarmann suchte er sein erstes Opfer am Hannoveraner Hauptbahnhof. Haarmann knüpfte damals Kontakte zu jungen Ausreißern und entlaufenen Heimkindern. Eine Stricher-Szene, so wie sie an fast jedem größeren Bahnhof zu finden war, gab es damals noch nicht. Obwohl sein erster Streifzug fast eineinhalb Jahre zurücklag, erinnerte er sich noch sehr gut daran zurück. Das erste Mal ist immer etwas Besonderes, dachte er.

 
    In seiner Erinnerung sah er die große Deckenuhr.
    Es war acht Uhr abends.
    Neonlampen leuchteten, ohne Schatten zu werfen.
    Ein Ort ohne Konturen.
    Frauenabsätze klackten auf den grauen Steinplatten. Menschen mit Kaufhaustüten hasteten vorbei, andere schlenderten, ohne Tasche, ohne Eile.
    Dann hielt er Ausschau nach der öffentlichen Toilette im Untergeschoss. Ein Pfeil wies den Weg nach unten. Dort, wo die Sonne nie hinkommt, sah er einen

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