Haarmanns Kopf
gepachtet und das Hauptgebäude notdürftig renoviert. Er pflegte keinen Kontakt zu den Einwohnern des Dorfes und galt gemeinhin als Eremit. Der Einzige, der ihn gelegentlich zu Gesicht bekam, war der Postbote. Zu mehr als einigen belanglosen Floskeln und Banalitäten hatte sich der Mann nie hinreißen lassen, wusste der Postbote zu berichten.
Niemand in dem kleinen Ort wusste, dass der verschwiegene Mann einem Beruf nachging, der in früheren Zeiten, vor allem in ländlichen Gegenden, gerne als düsteres Gewerbe bezeichnet wurde, nämlich dem des Bestatters.
In einer Zeit, als die Reinigung, das Ankleiden, die Einsargung und Aufbahrung eines Verstorbenen zumeist noch von der Familie besorgt wurden, hatte er eine Ausbildung bei einem Tischler begonnen. Doch irgendwann hatte sein Meister – wie viele andere seiner Zunft auch – damit begonnen, sich auf Bestattungen zu konzentrieren.
Bereits früh entdeckte der Mann seine Neigung, sich intensiver mit den Toten zu beschäftigen. Während andere in dem kleinen Betrieb zu den Toten auf Distanz gingen, bereiteten ihm Aufgaben wie die Leichenwaschung, das Schminken und das Anlegen des Totenhemdes Freude .
Er sprach mit niemandem darüber, weil er es für verwerflich hielt. Durfte man bei dieser Arbeit überhaupt so etwas wie Spaß empfinden?
Als der alte Tischler starb und keines seiner Kinder das Unternehmen weiterführen wollte, musste sich der Mann eine neue Anstellung suchen. Die fand er schließlich im zwölf Kilometer entfernten Holzminden, im oberen Weserbergland. Dort arbeitete er in einem Bestattungshaus, das über ein ausgezeichnetes Renommee verfügte. Die Geschäfte liefen gut und ihm kam nie in den Sinn, einer anderen Tätigkeit nachzugehen. Neben seinem Beruf, den er mit viel Hingabe ausfüllte, ging er einem Hobby nach, das er zunächst vollkommen losgelöst von seinem Beruf betrachtete. Nie wäre er auf die Idee gekommen, das Präparieren von Tieren und Vögeln mit seinem Beruf in Verbindung zu bringen.
Doch irgendwann befiel ihn eine Sinnkrise geradezu bedrohlichen Ausmaßes. Es fing damit an, dass er das Gefühl hatte, am Leben vorbei zu leben. Die Frage nach dem Sinn seines Daseins nahm von Tag zu Tag mehr Raum ein. Bald erschien ihm alles nur noch leer und substanzlos, sein Lebensfundament drohte zu zerbröckeln. Seine Depressionen wurden so heftig, dass er eines Tages einfach zusammenbrach. Er sah keinen Ausweg mehr als Selbstmord.
Doch dann geschah etwas, mit dem er nicht gerechnet hatte.
Eines Abends stand ein Mann vor seiner Tür, der sich für seine Arbeit als Präparator interessierte. Sie kamen ins Gespräch und redeten nach einer Führung durch seine Werkstatt und sein Haus auch über seine Gefühle, Ängste und privaten Sorgen. Vom ersten Augenblick des Gesprächs an fühlte er sich wohl und geborgen in der Nähe des Mannes, der ihm bereits nach kurzer Zeit wie ein alter Vertrauter vorkam. Später gab sich jener als Arzt und Psychiater zu erkennen und bot ihm seine Hilfe an.
Er nahm dankend an. Eine Reihe von Sitzungen, die der Psychiater unentgeltlich durchführte, half ihm langsam wieder auf die Beine. Es wurden ihm Dinge aufgezeigt, von denen er noch nie gehört und über die er niemals zuvor nachgedacht hatte. Bis dahin hatte er weder über Lustgewinn und innere Balance, noch über die Verwirklichung seiner Werte nachgedacht.
In einem Kinderheim aufgewachsen, hatte er nie Kontakt zu Angehörigen gehabt, und so nahm der Psychiater bald die Rolle des zuhörenden und beratenden Vertrauten ein, mit dem er über alles reden konnte. Langsam öffnete sich für ihn eine Welt, von der er vorher gar nicht gewusst hatte, dass sie existierte. Er durfte seinen väterlichen Freund zu Kunstausstellungen, Theaterbesuchen und Konzerten begleiten.
Im August des vergangenen Jahres hatten sie gemeinsam eine Ausstellung in Bochum besucht. Er hatte schon vor einigen Jahren davon gehört, dass ein Arzt namens Gunther von Hagens für Furore sorgte. Von Hagens bezeichnete sich selbst als Anatom, Wissenschaftler und manchmal auch als Unternehmer. Er war der Erfinder der Plastination , eines dauerhaften Konservierungsverfahrens toter menschlicher und tierischer Körper mittels Austauschs der Zellflüssigkeit durch reaktive Kunststoffe.
Als sie damals vor dem Eingang der Ausstellungshalle in Bochum standen, konnte er sich nicht viel unter dem Thema der Ausstellung vorstellen.
Körperwelten & Der Zyklus des Lebens
Als sie dann die Halle
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