Hab keine Angst, mein Maedchen
der Tapete entlang. Sie war in einem sanften Apricot-Ton. Zwei große Fotos mit Landschaftsbildern hingen an den Wänden. Eins mit einer blühenden Heidelandschaft, die bis an den Horizont reichte. In dem lila Meer standen vereinzelt Wacholder, die wie schlafende Hirten wirkten. Das andere zeigte ein Seeufer. Das war unser Stadtsee. Die Sonne spiegelte sich als roter Ball auf der Wasseroberfläche. Eine eingefangene Abendstimmung. Oder war es ein Tagesanfang? Egal. Weit wichtigere Fragen ließen sich nicht länger in den Hintergrund drängen. Sie schwirrten in meinem Kopf wild durcheinander und forderten Antworten. Bevor ich eine davon formulieren konnte, stellte die Frau ruhig fest: »Sie machen sich Sorgen.«
Ich sah sie misstrauisch an. Woher wusste sie das?
»Hatte ich einen Unfall? Bin ich im Krankenhaus? Oder bin ich in einem Hotel?«
Während ich Hotel aussprach, wurde mir schon die Lächerlichkeit der Frage bewusst. In welchem Hotel saß eine freundlich besorgte Dame am Bett und hielt den Gast tröstend in den Armen? Die Frau lächelte mich verständnisvoll an und sagte: »Manchmal weiß man nicht, wie man wo hingekommen ist.«
Aus irgendeinem Grund schien sie mich zu verstehen. Genau das war es: Ich wusste nicht, wie ich in dieses Zimmer gekommen war. Meine letzte Erinnerung war der Traum. Lenas Unfall. Davon hatte ich noch nie geträumt. Ich hatte auch lange nicht daran gedacht. Eigentlich nie. Wenn ich mich doch einmal in eine Erinnerung an jene Nacht verirrte, habe ich sofort die Notbremse gezogen und aufgehört darüber nachzudenken. Das waren unnötig quälende Grübeleien. Lena war tot. Das blieb so oder so eine unumstößliche Tatsache. Warum war ich plötzlich nicht mehr Herr meiner Gedanken? Warum fielen die alten Bilder mit einer solchen Macht über mich her, dass ich mich nicht gegen sie wehren konnte? Lena dort auf der Straße liegend. In ihrem Blut. Tot. Und Mama, die so furchtbar traurig war. Das hat wehgetan, als wäre es gerade eben erst passiert. Ich hatte vor Schmerz geschrien. Sicher. Deshalb war diese Frau in mein Zimmer gekommen. Sie hatte sich Sorgen gemacht. Das klang logisch. Blieb noch immer die Frage, wie ich überhaupt hierhergekommen war. Und warum? Mein Blick traf wieder den der geduldig Wartenden an meinem Bett. Sie sagte: »Manchmal weiß man nicht mehr, wie es weitergehen soll.«
Ich nickte heftig. Das stimmte.
»Ja, manchmal weiß man gar nichts mehr. Irgendwie bin ich komplett durcheinander. Wie – wie komme ich eigentlich hierher?«
»Ihre Tochter hat uns gebeten, Sie für ein paar Tage aufzunehmen. Sie wird Sie bald besuchen. Dr. Ohlsen hat Sie letzte Nacht zu uns gebracht. Ich bin Heike Bremer.«
Ihre Worte klangen in mir nach. Ihre Tochter hat uns gebeten, Sie aufzunehmen. Dr. Ohlsen hat Sie zu uns gebracht.
Schon wieder dieser neurotische Wirrwarr. Was hatte das zu bedeuten? Ich betrachtete die Frau genauer. Sie trug keine Dienstkleidung, sondern eine leichte Sommerbluse und Jeans. Und sie hatte sich mit Heike Bremer vorgestellt. Aber sie gehörte eindeutig zu dem Komplott, dessen Hintergrund ich nicht entschlüsseln konnte. Das machte mich wahnsinnig. Ich riss mich zusammen, um äußerlich ruhig zu wirken. Ich verstand zwar den Sinn und vor allem das Ziel dieser schrägen Vorstellung nicht, aber eines war klar: Ich musste von nun an vorsichtig sein. Ganz vorsichtig. Ich durfte mir mein inneres Chaos nicht mehr anmerken lassen. Sonst spritzten sie mir wieder eine Nettigkeit zum Sedieren unter die Mundschleimhaut. Wahrscheinlich hatte die freundliche Dame die nötige Medizin schon parat liegen. Für den Fall, dass ich aus dem Ruder lief. Darauf würde sie lange warten können. Ich hatte mich wieder im Griff und würde so tun, als wäre alles für mich ganz normal. Völlig in Ordnung. Sie musste in Sicherheit gewiegt werden, dass ich ihr saublödes Spiel mitmache. Nichts durchschaute oder hinterfragte. Genau. Und die nächstbeste Gelegenheit würde ich nutzen, um hier abzuhauen.
Ich räusperte mich umständlich: »Und was kommt jetzt?«
»Wir frühstücken gerade. Haben Sie Appetit auf einen frischen Kaffee?«
Wir. Wer ist wir? Aber frischer Kaffee wäre in der Tat gut.
»Schön«, antwortete ich hölzern. »Frühstücken wir.«
»Das ist gut. Sie wollen sich sicher vorher frisch machen und anziehen?«
Ich nickte flüchtig und arbeitete langsam meine Beine aus dem Bett. Sie schienen bleischwer. Wie überhaupt mein ganzer Körper wie auf Sparflamme
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