Hab keine Angst, mein Maedchen
noch einmal mit salbungsvoller Stimme. »Ich bin Jonas. Lasses Jugendfreund. Erinnern Sie sich? Wir haben bei Ihnen einige Partys gefeiert.«
Er wagte ein vertrauliches Lächeln. Ich antwortete nicht.
»Mira hat mich angerufen, damit ich nach Ihnen schaue. Sie macht sich Sorgen um Sie. Ihre Tochter versucht, so schnell wie möglich aus Bern loszukommen. Bis dahin habe ich ihr versprechen müssen, mich um Sie zu kümmern.«
In mir wütete ein wilder Vulkan. Sie behandelten mich wie ein entlaufenes Hündchen, das wieder eingefangen werden musste. Sie nahmen mich irgendwie nicht ernst. Ich musste ruhig bleiben. Sie unterschätzten mich, und den Vorteil würde ich für mich nutzen. Vor allem, um Zeit zu schinden, bis die Polizei kam. Die musste jeden Augenblick eintreffen. Irgendjemand von diesen Schnarchnasen von Nachbarn musste doch begriffen haben, dass sich vor ihrer Haustür ein Krimi abspielte. Live.
»Na fein, jetzt haben Sie nach mir geschaut und können beruhigt wegfahren. Ich möchte wieder in mein Haus gehen. Ich bin müde.« Ich bemühte mich um einen festen Tonfall und hielt mit Ohlsen Blickkontakt. Seine Augen strahlten tiefes Verständnis für mich aus. Das hat mich schon immer wahnsinnig gemacht, und ich spürte, wie Wut in mir hochkochte.
»Liebe Frau Meinberg, wir würden Sie gern für eine Nacht mit ins ›Domizil am See‹ nehmen«, erklärte er ungebrochen freundlich lächelnd.
Ich lachte hysterisch auf. ›Domizil am See‹. Das hörte sich stark nach Klapse an. Ohne mich. Ich hatte keine Psychose. Das ließ ich mir nicht einreden. Egal, wie gut diese Inszenierung auch eingefädelt war. »Schluss der Vorstellung! Was soll ich dort. Hier steht mein Haus, mein Bett. Lassen Sie mich endlich in Ruhe! Sie haben kein Recht, mich gegen meinen Willen irgendwo hinzubringen. Oder haben Sie einen Beschluss?«
Ohlsen, oder wie immer er auch hieß, kam sichtlich ins Strudeln und suchte nach einer passenden Antwort. Ein Ansatz von Triumph besänftigte das Rauschen in meinem Kopf und machte mich ruhiger. Ich schaute mich um. Noch immer war kein geöffnetes Fenster zu erkennen. Die konnten doch nicht alle geschmiert sein. Oder doch?
Der angebliche Doktor griff vorsichtig nach meiner Hand.
»Sie können selbstverständlich wieder nach Hause. Aber heute kommen Sie erst einmal mit. Es wird Ihnen dort gefallen. Wirklich nur so lange, bis Mira hier ist.«
Er versuchte, mich behutsam in Richtung Krankenwagen zu manövrieren. Ich versteifte mich. Genug war genug. Wenn mir sonst niemand half, musste ich es selbst tun. Ich entzog ihm heftig meine Hand. Die beiden Sanis schob ich rüde zur Seite und lief davon. Das heißt, ich wollte es. Bevor ich einen Meter entfernt war, hatten sie mich eingeholt und hielten mich wieder umklammert.
»Ist ja gut. Ist ja alles gut«, näselte der Sani links von mir, als wollte er ein aufgebrachtes Pferd beruhigen.
»Gar nichts ist gut!«, schrie ich ihn an. Ich versuchte mich noch einmal zu befreien. Nichts zu machen. Sie hielten mich fest wie in einem Schraubstock und schoben mich wie eine willenlose Puppe vorwärts. Da packte mich die Angst. Und zwar in ihrer vollen Macht. Sie überspülte jede Möglichkeit eines logischen Gedankens. Ich wollte nur noch weg. Nicht gefangen sein.
Ich ließ mich einfach fallen. Sie trugen mich. Ich wand mich wie ein Aal und erreichte mit dem Gesicht einen Arm. Ich biss mit aller Kraft zu. Ein Schmerzensschrei. Aber sie ließen mich nicht los. Ich begann zu treten. Traf. Wieder ein Stöhnen.
»Valequid!«, hörte ich jemanden rufen.
Mein Kopf wurde von Händen umspannt. Ich schrie. Klebrige Flüssigkeit spritzte in meine Mundhöhle. Ich hustete, wollte spucken, aber sie drückten meinen Kiefer zusammen. Ich musste das Zeugs, ob ich wollte oder nicht, hinunterschlucken.
Interview: weiblich, 41 Jahre
Zum Wort ›alt‹ fällt mir wertlos ein. Ebenso wertvoll. Das gilt eher für historische Gegenstände, manchmal auch für Menschen. Abhängigkeit. Auch hier fällt mir gleichzeitig Unabhängigkeit ein. Das kommt auf die Sichtweise an.
Ich mag an alten Menschen nicht, wenn sie jungen gegenüber respektlos sind, sogar rücksichtslos. Wenn sie sich mit einer Selbstverständlichkeit breitmachen mit der alles entschuldigenden Aussage: Das haben wir uns jetzt verdient, weil wir alt sind!
Was mir an alten Menschen imponiert? Das ist eine schwere Frage, weil es leider wirklich wenig alte Menschen gibt, die mir imponieren. Allerdings eine Frau
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