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Hab keine Angst, mein Maedchen

Hab keine Angst, mein Maedchen

Titel: Hab keine Angst, mein Maedchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Hunold-Reime
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reagierte. Als hätte ich gestern Abend zwei Flaschen Wein ausgetrunken. Verfluchte Sedierung. Dabei müsste mein Stoffwechsel so ein bisschen Chemie besser wegstecken können. Immerhin gönnte ich mir recht regelmäßig eine Schlaftablette.
    Frau Bremer war in der Badezimmertür stehen geblieben und beobachtete mich aufmerksam. Sie sollte verschwinden und mich in Ruhe lassen. Ich konnte meine Gereiztheit nicht mehr unterdrücken.
    »Das schaffe ich gerade noch allein«, knurrte ich. Meine Aufpasserin blieb weiterhin freundlich souverän. »In Ordnung«, sagte sie. »Dann bis gleich. Ich bin auf dem Flur, wenn Sie mich brauchen.« Mit diesen Worten ließ sie mich tatsächlich allein.
    Das war auch wieder so ein Spruch. Warum sollte ich sie brauchen, dachte ich und atmete tief durch. Erst einmal auf die Toilette. Sie war zum Glück blitzsauber. Ich setzte mich auf die Brille und versuchte nachzudenken. Wie spät hatten wir es wohl? Ich entdeckte im Regal meine Armbanduhr und fischte sie mir herunter. Die Uhrzeit ließ mich wie elektrisiert hochfahren. Es war 8.10 Uhr! Herrje! So lange hatte ich seit Ewigkeiten nicht in den Federn gelegen. Ich würde es nicht mehr pünktlich in die Praxis schaffen. Nie im Leben, denn ich hatte noch diese unschlagbar freundliche Frau Bremer und ein Frühstücksversprechen am Hals. Telefon. Ich musste sofort Nele benachrichtigen. Sie wusste, was zu tun war, um die Patienten eine Zeit lang bei Laune zu halten. Ich würde versuchen, so schnell wie möglich zu kommen.
    Um zu Hause brauchte ich mir keine Sorgen zu machen. Hans übernahm morgens den Weckdienst und das Frühstück für die Kinder. Die Kinder. Der Gedanke an sie und meinen Mann machte mir Angst. Ich drückte die beklemmende Erinnerung des Telefonats mit meiner angeblichen Tochter beiseite. Mira und Lasse waren selbstverständlich noch Kinder. Sie konnten nicht von einem Tag zum anderen erwachsen geworden sein, und Hans nicht – tot. Das war einfach lächerlich.
    Ich beäugte Handtücher und Seife. Alles schien ungebraucht und sauber und somit unbedenklich.
    Ich ließ das Wasser laufen und wusch mein Gesicht. Das sah mir im Spiegel übermüdet und mit Augenrändern entgegen. So konnte ich mich unmöglich in der Öffentlichkeit zeigen. Mein Blick fiel auf die schlichte Kosmetiktasche. Das war wirklich meine. Wie kam die hierher? Waren fremde Menschen in unserem Haus gewesen und hatten für mich gepackt?
    Ich schlang ein Handtuch um meinen Körper und tapste in das Zimmer zurück. Vielleicht war meine Handtasche auch hier und vor allem mein Handy. Ich öffnete alle Schranktüren und Schubladen. Der Inhalt war eine Enttäuschung. Nur ein paar Kleidungsstücke. Hose, Pullover, Bluse und frische Unterwäsche. Sie gehörten mir nicht. Ich musste wieder an den gestrigen Abend denken. Unser Schlafzimmerschrank war ebenfalls komplett umgeräumt gewesen. Irgendjemand schien ganze Arbeit zu leisten. Warum auch immer. Hör auf! Verzettel dich nicht, ermahnte ich mich. Diese Gedanken machen dich nur unruhig und schüren neue Angst. Zieh an, was du geboten kriegst und sieh zu, dass du Land gewinnst!
    Ich gehorchte meiner inneren Stimme. Fertig angezogen ging ich an das Fenster. Die Aussicht machte die naheliegendste Möglichkeit einer Flucht zunichte. Ich befand mich in der zweiten Etage. Keine Chance. Das war zum Springen viel zu hoch. Wo war ich hier überhaupt? Das Haus lag tief in einem parkähnlichen Gelände. Gewaltige, alte Eichen standen wie Wächter am Rand gepflegter Grünanlagen. Durch die Äste der Bäume konnte ich Wasser schimmern sehen. Das musste der See sein. Dort befand sich schon mal keine Psychiatrie, das würde ich wissen. ›Domizil am See‹, hatte dieser Ohlsen gesagt. Was war das? Ich ärgerte mich, dass ich mich so wenig mit meiner Umgebung beschäftigt hatte. Sonst würde ich wissen, auf welcher Seite des Sees ich mich befand, und was das hier für ein ominöses Haus war. Schon 8.20 Uhr! Die Zeit rannte mir davon. Ich durfte keine mehr mit zwecklosen Überlegungen verschwenden. Nele würde sich zu helfen wissen, auch ohne einen Anruf von mir.
    Wir frühstücken unten, hatte Frau Bremer gesagt. Unten hörte sich gut an. Ich würde einen Kaffee trinken, auf die Toilette gehen und durch die nächste Tür von hier verschwinden.
     
    Interview: männlich, 33 Jahre
     
    Zum Wort ›alt‹ fällt mir Starre, Sturheit, Wertlosigkeit, Gemüsegarten und Erinnerungen ein.
    An alten Menschen stört mich ihre Einheitsuniform.

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