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Hab keine Angst, mein Maedchen

Hab keine Angst, mein Maedchen

Titel: Hab keine Angst, mein Maedchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Hunold-Reime
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fällt mir doch gleich ein. Eine 90-jährige Kundin. Sie ist einfach toll. Sie erzählt uns immer, dass sie nie geglaubt hat, so eine lange Rentenzeit zu erleben. Das wäre noch einmal wie ein ganzes Leben, und sie genießt diesen Abschnitt und ist sehr glücklich, diese Zeit noch gehabt zu haben, bzw. zu haben.
    Wenn ich plötzlich mein Heim verlassen müsste, würde ich mein Portemonnaie und mein Handy mitnehmen. Ich hänge nicht an Gegenständen. Sie sind alle zu ersetzen.
    Wenn ich mir vorstelle, ich wäre 86 Jahre, möchte ich am liebsten so sein wie die alte Frau, die ich gerade beschrieben habe. Offen und interessiert und dankbar für die noch geschenkte Zeit und vor allem nicht verbittert.

Kapitel 9
     
    Lena! Ihr Gesicht tauchte für einen Augenblick hinter der Fensterscheibe auf. Kurz. So kurz, dass man glauben konnte, einer Halluzination aufgesessen zu sein. Aber ich war mir ganz sicher. Ich hatte Lena gesehen. Und sie mich. Sie hatte uns gesehen! Mein Gott, was musste in ihr vorgehen? Wie lange hatte sie dort überhaupt schon gestanden? Ich achtete nicht auf den Mann, der noch immer reglos am Boden lag. Ich zog mir im Laufen einen Slip und das nächstliegende Shirt über und raste zu Lenas Zimmer. Mit der verzweifelten Hoffnung, mich getäuscht zu haben. Vielleicht lag meine kleine Schwester friedlich schlafend in ihrem Bett. Es war leer. Nur mein Koffer lag aufgeklappt auf ihrem Kopfkissen. Er diente Lenas Lieblingspuppen als Schlafplatz. Ich überprüfte ihre Terrassentür zum Garten. Sie war fest zugezogen. Das bedeutete, sie hatte sich irgendwo in der Wohnung versteckt.
    »Lena! Wo steckst du? Lena! Komm sofort her!«
    Unser Haus hatte nur eine Etage zu ebener Erde. Mama wollte weder ein Dachgeschoss noch einen Keller. Das wären ihrer Meinung nach unnötige Stauräume. Auch für negative Energien. In dieser Nacht war ich heilfroh über diesen Tick meiner Mutter. Die abzusuchenden Räume waren überschaubar. Badezimmer. Küche. Wohnzimmer. Keine Lena zu finden.
    »Mäuschen, mach‹ mal piep!«, versuchte ich, sie zu locken. Keine Antwort. Ich ging in das Elternschlafzimmer. Die Gardinen wehten. Die Terrassentür stand offen. Mit ein paar Schritten war ich draußen in der Dunkelheit des nächtlichen Gartens.
    »Lena, wo hast du dich verkrochen? Komm zu mir. Ich bin auch nicht böse auf dich. Bitte!«
    Nichts. Nur das leise Rascheln der jungen Maiblätter, die sanft vom Wind bewegt wurden. Ihr Lieblingsplatz. Genau. Die kleine Hexe war unter die Weide gekrochen. Deren Zweige senkten sich wie ein Zelt bis auf die Erde. Mama und Steve wollten ihr dort ein Baumhaus einrichten. Lena hatte das Angebot abgelehnt. Sie sagte, es wäre bereits ein Baumhaus. Ein schöneres könnte man nicht bauen.
    Ich bog die Zweige zur Seite. »Lena?«
    Ich kniff meine Augen zusammen, um im nächtlichen Schatten des Baumdaches etwas erkennen zu können. In gebückter Stellung tastete ich mich einmal um den Stamm herum. Nichts. Keine Lena.
    Wo konnte sie sich sonst noch verkochen haben? Mein Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Dabei hatte ich das Gefühl, meine Schädeldecke müsste von der Anstrengung jeden Augenblick auseinanderspringen. Was würde Mama sagen, wenn sie nach Hause käme, und Lena wäre noch immer verschwunden? Sie würde vor Sorge durchdrehen und mir die Schuld geben. Ich hatte nicht aufgepasst. Mein Blick wanderte zurück zum Haus. Mama würde mir die Schuld an allem geben. Ich umarmte mich fröstelnd. Nein. Sie durfte nie etwas davon erfahren. Niemals.
    Aber Lena wusste es. Sie hatte am Fenster gestanden und uns gesehen. Plötzlich wusste ich, wohin sie unterwegs war. Das hätte mir auch gleich einfallen können. Mama saß mit großer Wahrscheinlichkeit noch beim ›Alten Seemann‹. Lena kannte den Weg zu der Gastwirtschaft. Schnell. Ich musste mich beeilen. Dann würde ich sie einholen. Ich rannte los. Dabei dachte ich nicht daran, dass ich nur ein dünnes Hemd trug. Der einzig bestimmende Gedanke in mir war: Ich muss Lena abfangen, bevor sie bei Mama ist. Ich war gut durchtrainiert. Ich konnte es schaffen. Diese dumme, kleine Verrückte! Mitten in der Nacht abzuhauen. Warum war sie überhaupt aufgestanden und nach draußen gelaufen? Hatte sie etwas gehört? Oder hatte sie die Gefahr gespürt und wollte mir helfen? Tolle Hilfe. Sie hätte sich einfach die Decke über die Ohren ziehen sollen. Aber nein, sie musste aufstehen. Immer ihren eigenen Kopf. Unmöglich und superanstrengend. Ich würde später einmal

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