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Hab keine Angst, mein Maedchen

Hab keine Angst, mein Maedchen

Titel: Hab keine Angst, mein Maedchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Hunold-Reime
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Ich frage mich, ob es Läden speziell für alte Menschen mit einer einschlägigen Moderichtung gibt (lacht)? Ich finde, ab einem gewissen Alter, so ab 60, sehen die Menschen fast alle gleich aus. Besonders im Sommer. Die Frauen in diesen fürchterlichen Dreiviertelhosen und hellen Söckchen oder Perlonkniestrümpfen. Dazu wattierte Westen in hellblau oder rosa. Die Männer tragen ähnliche Hosen in beige in einem leichteren Material. Das Haar ist weiß mit lila oder rosa Strähnen. Sie sind meist unnatürlich gebräunt und haben ein Zahnarztlächeln. Dazu dieser starre Blick. Sie kommen mir ein wenig wie Außerirdische vor, die so auf die Welt gekommen sind und noch nie jung waren. Sie schauen immer ganz pikiert, wenn sich jemand anders benimmt, als es in ihre Tagesstruktur oder ihr kleines Weltbild passt. Letztens habe ich mich im Bus dabei ertappt, dass mir, ich denke mal, Achtklässler auf die Nerven gegangen sind mit ihrem rüpelhaften Benehmen. So rücksichtslos und laut. Dann habe ich nachgedacht, aber so habe ich mich in dem Alter nie verhalten. Oder bin ich auch schon alt im Denken und habe das vergessen?
    Mir imponiert an alten Menschen, wenn sie ausgeglichen wirken. Eine gewisse Zufriedenheit und Ruhe ausstrahlen, eben wie Menschen, die ihr inneres Gleichgewicht gefunden haben. Das habe ich bislang nur bei älteren Menschen erlebt. Keine Ahnung, ob sie immer schon so waren oder ob man eine Chance hat, das zu lernen.
    Wenn ich plötzlich mein Heim verlassen müsste, würde ich gar nichts mitnehmen. Nee, fällt mir absolut nichts ein.
    Als 86-Jähriger, falls ich dann noch lebe, sehe ich mich am offenen Fenster stehen. Ich stehe dort, auf ein Kissen gestützt, beobachte die Vorbeigehenden und mecker über alles und über jeden.

Kapitel 10
     
    Ich hatte das Zimmer gründlich durchsucht, aber weder Handy noch Ausweispapiere oder Bargeld gefunden. Dafür entdeckte ich meinen alten Koffer. Unter dem Bett. Mein Lieblingsversteck aus Kindertagen. Ich hatte ihn selbstverständlich mitgenommen. Die privaten Fotos und Briefe brauchten keinem Fremden in die Hände zu fallen.
    Doch wer hatte ihn geholt und mir unter das Bett geschoben? Derjenige musste mich gut und schon sehr lange kennen. Mein rosarotes Erinnerungsstück war nicht mit einem eleganten Damenkoffer zu verwechseln. Wer konnte dafür infrage kommen, und was zum Teufel war mit mir los? Seit – ich überlegte angestrengt – seit mich gestern dieser schmierige Typ im Auto überfallen hatte, schien die Welt um mich herum wie auf den Kopf gestellt. Da musste es einen Zusammenhang geben. Aber welchen? Ich zwang mich, die Überlegungen beiseitezuschieben. Erst einmal weg hier und in die Praxis fahren. Ich musste mit Nele alles Organisatorische klären und dann würde ich freinehmen. Ungeplant. Das fühlte sich regelrecht revolutionär an. Und das war es auch für mich. Ich hatte mir noch niemals den Luxus geleistet, einfach mal blauzumachen. Das brachte Chaos in den Praxisalltag. Termine mussten verschoben werden. Etliche Telefonate geführt, um Patienten zu vertrösten. Nele würde wenig begeistert sein. Darauf konnte ich heute keine Rücksicht nehmen. Ich brauchte dringend Zeit. Vor allem, um in Ruhe mit Hans zu sprechen. Hans. Seit zehn Jahren tot. Wer immer sich dieses – dieses Theater ausgedacht hatte: Es war nicht mehr witzig. Menschen für tot zu erklären, damit machte man keine Spielchen. Das ging eindeutig unter die Gürtellinie.
    Ich öffnete die Tür nur einen Spaltbreit und spähte auf den Flur. Niemand zu sehen. Ich wartete einen Augenblick, dann verließ ich das Zimmer. Es hätte mich nicht gewundert, wenn die besorgte Frau Bremer sofort aus einem der Zimmer auf mich zugeschossen wäre. Aber nichts. Es blieb ruhig. Kein Wachtposten in Sicht. Ich zögerte. In welche Richtung sollte ich gehen? Wo befand sich wohl das Treppenhaus? Ich entdeckte keinen Hinweis und entschied mich, den Weg nach links einzuschlagen.
    »Fleißig wie immer.«
    Ich zuckte zusammen. Das war Frau Bremers Stimme. Ganz in meiner Nähe. Wen meinte sie, doch nicht etwa mich? Aus einer Zimmertür fielen Sonnenstrahlen auf den Flur. Sie tanzten auf dem orangefarbenen Teppich. Ich schlich mich heran, bis ich in das Zimmer sehen konnte. Frau Bremer stand neben einer alten Frau. Einer uralten. Die Greisin trug einen weißen Kittel und polierte hoch konzentriert die Holzbeine eines Stuhls. Sie erinnerte mich an meine Oma. Die hatte auch immer so einen Kittel bei der Hausarbeit

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