Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hab keine Angst, mein Maedchen

Hab keine Angst, mein Maedchen

Titel: Hab keine Angst, mein Maedchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Hunold-Reime
Vom Netzwerk:
keine Zeit mehr hätte, gelacht. Aber es stimmt auf eine Art und Weise. Man geht bewusster durch den Tag, sieht viel mehr als früher. Man nimmt viel mehr wahr. Das braucht Zeit. Und man entwickelt Interessen, zu denen man als Berufstätiger keine Muße hatte. Kaum zu glauben, aber erst jetzt brauche ich wirklich einen Terminkalender. Früher hatten die Tage durch die Arbeit eine Struktur aus Beton. Da musste ich höchstens mal am Wochenende etwas eintragen. Nun ist er randvoll. Mit schönen Terminen.
    Ich mag an alten Menschen nicht, wenn sie so eine Erwartungshaltung an die Gesellschaft und vor allem an die eigenen Kinder entwickeln. Sie erwarten Dankbarkeit. Als hätten sie ein Recht darauf, ihre Saat zu ernten. Sie erwarten Besuche und Zuwendung.
    Und ich mag es nicht, wenn alte Menschen nicht die Verantwortung für ihre Zukunft übernehmen. Solange sie noch dazu in der Lage sind. Sie beharren eisern darauf, dass sich nichts verändert. An ihrer Wohnsituation zum Beispiel. Bis sie sich einen Oberschenkel brechen und in einer Nacht- und Nebelaktion irgendwo untergebracht werden müssen. Wenn sie Glück haben, wird das von ihren Kindern organisiert. Aber die sind damit auch überfordert. Sie müssen im Grunde die Verantwortung für ihre Eltern übernehmen oder abgeben. So eine Entscheidung treffen zu müssen, die Last sollte man ihnen nicht aufdrücken.
    Mir imponiert an alten Menschen, wenn sie Interessen behalten, rege bleiben und nicht nur depressiv auf ihr Ende warten. Wenn sie nicht ständig über ihre Wehwehchen reden. Die haben wir schließlich alle. Aber will man da ständig drüber sprechen?
    Wenn ich plötzlich mein Heim verlassen müsste, würde ich meine Lieblingskochtöpfe mitnehmen. Ich koche und esse leidenschaftlich gerne. Dazu ein paar Flaschen Rotwein und Kerzen.
    Ich als 86-Jähriger? Ich bin nicht sicher, ob ich so alt werden will. Wenn ja, dann nur ohne diese verdammte Demenz. Die macht mir Angst. Nicht mehr Herr meiner Sinne zu sein. Nein, da möchte ich lieber vorher abgerufen werden.
    Falls ich gesund bleibe, im Rahmen meines Alters, wäre ich gerne noch ein Weilchen hier. Es macht gerade noch viel Spaß.

Kapitel 16
     
    Das Zimmertelefon läutete dicht an meinem Ohr. Ich rollte mich zur Seite und nahm den Hörer ab. »Meinberg«, meldete ich mich mechanisch und hätte mir am liebsten auf die Zunge gebissen. Ich hatte, so aus dem Schlaf gerissen, nicht daran gedacht, dass wir inkognito unterwegs waren. Zum Glück vernahm ich am anderen Ende der Leitung eine wohlvertraute Stimme: »Michelle, da bist du ja.«
    Mir fiel ein Felsbrocken vom Herzen.
    »Mama!« Mehr konnte ich nicht hervorbringen.
    »Ja, ich bin’s«, bestätigte sie in ihrer ruhigen Art, als wäre in den letzten 24 Stunden nichts Ungewöhnliches geschehen. Ich ließ mich mit dem Telefon auf das Bett zurückfallen und hätte vor Erleichterung gleich wieder heulen können.
    »Michelle, hast du Lust auf eine Tasse Kaffee?«
    »Wann und wo immer du willst.«
    »Fein«, sagte sie, und ich hörte ein Lächeln in ihrer Stimme. »Dann bis gleich in der Buchenstraße. Ich bin im Garten.«
    »In der Buchenstraße? Meinst du in unserem alten Haus? Du hast es also nicht verkauft?«
    Die Fragen sprudelten nur so aus mir hervor.
    »Nein, selbstverständlich habe ich es nicht verkauft.«
    »Das hast du mir nie erzählt.«
    »Du hast auch nie gefragt.«
    Nein, das hatte ich nicht. Wie so vieles andere auch nicht. Das würde ich nachholen. Und zwar noch heute.
    »Bis gleich«, sagte ich und legte auf. Ich verlor keine Zeit, um mich zurechtzumachen. Zumal ich meinem Spiegelbild sowieso nicht mehr trauen konnte. Ein Spuk, der hoffentlich bald vorbei sein würde. Mama war wieder aufgetaucht. Sie wartete auf mich in unserem alten Haus. Alles würde gut. Ich schnappte meinen Kinderkoffer und machte mich auf den Weg.
    Gut, dass Magdalene beide Zimmer im Voraus bezahlt und mir Geld da gelassen hatte. So brauchte ich an der Rezeption keine lästigen Fragen zu beantworten und konnte problemlos ein Taxi bestellen. Dieses Mal löste das genannte Fahrtziel keine Irritationen aus. Der Taxifahrer nickte gleichmütig und fuhr los.
    Ich war aufgeregt wie ein Kind vor Weihnachten. Gleich würde ich mein Elternhaus wiedersehen. In der Buchenstraße war ich seit Lenas Unfall nicht mehr gewesen. Wir waren unmittelbar danach ausgezogen und hatten in einem anderen Stadtteil gelebt. Nach meinem Abitur war ich ins Studentenwohnheim übergesiedelt und Mama in ihre

Weitere Kostenlose Bücher