Hab keine Angst, mein Maedchen
Datscha am See.
Die Buchenstraße war eine Allee mit alten, prächtigen Buchen. Sie waren sicher der Grund, warum sich hier kaum etwas verändert hatte. Als wäre die Zeit stehen geblieben. Der vertraute Anblick der schattigen Straße machte mich glücklich. Auch unser Haus sah aus wie in meiner Erinnerung. Zur Straßenseite war es ein flacher, roter Klinkerbau. Ein Gebäude, das nur aus einem Erdgeschoss bestand und nicht zum längeren Betrachten einlud. Die großzügig angelegte Terrasse und der weitläufige Garten blieben den Blicken Vorbeigehender verborgen.
Im Garten, hatte Mama gesagt. Ich klingelte nicht, sondern lief auf dem Plattenweg entlang hinter das Haus. Als ich um die Ecke bog, blieb ich wie angewurzelt stehen. Der riesige Garten bestand aus einem einzigen Meer zartgelber, lindgrüner und rosaroter Farbtöne. Frauenmantel und Rosen. Sie waren zu gleichen Teilen über die große Fläche verteilt. Nur diese beiden Pflanzen. Der Frauenmantel mit seinem besonderen Gelb und Grün war Lenas Lieblingsblume gewesen. Sie behauptete steif und fest, dass auf den Blättern des Frauenmantels Perlen wuchsen. Damit meinte sie den Tau, dessen Tropfen in der Morgensonne auf den Blättern glitzerten. Meine Lieblingsblume war die Rose. Eine, die noch duftete und rosafarbene bis kräftig rote Blütenblätter trug. Ich war überwältigt von der Schönheit unseres Gartens und konnte mich gar nicht sattsehen. Dabei atmete ich den sinnlichen Duft der Rosen tief ein. So hätte ich stehen bleiben können. Aber ein anderer, penetranter Geruch überdeckte das liebliche Parfüm der Blüten. Rauch. Es brannte. Mein Gott, in unserem Haus brannte es! Wo war überhaupt meine Mutter? Ich begann, mir einen Weg durch die dichtstehenden Blumen zu bahnen. Das war beschwerlich. Die Rosenranken verhakten sich mit ihren Dornen in meiner Kleidung und versuchten, mich festzuhalten. Aber ich musste weiter, ins Haus, Mama helfen.
»Frau Meinberg, wachen Sie auf.«
Ich öffnete mühsam die flatternden Augenlider. Jemand zupfte an meinem Ärmel. Magdalene. Sie saß neben mir auf dem Bettrand.
»Tut mir leid, dass ich Sie geweckt habe. Aber Sie haben so unruhig geträumt«, sagte sie und ließ meinen Arm los.
Geträumt. Nur ein Traum. Die Enttäuschung trieb mir neue Tränen in die Augen. Ich sah zur Seite. Magdalene brauchte das nicht zu sehen. Die Ernüchterung traf mich wie ein Keulenschlag. Es hatte sich nichts an meiner verworrenen Situation geändert. Mama war verschwunden, und ich befand mich in einem Hotelzimmer. Über 40 Jahre älter als gestern. Gerade noch hatte ich so viel Hoffnung gehabt. Die Blumen, Lenas und meine Lieblinge, so grundverschieden und nebeneinander überwältigend schön. Ich hatte bei ihrem Anblick seit Langem ein Gefühl von Glück gespürt. Ganz tief in mir. Bis es nach Rauch gerochen hatte.
»Ich habe gedacht, es brennt«, murmelte ich.
»Oh, das war ich«, gestand Magdalene verlegen. »Ich habe geraucht. Aber ich brauchte jetzt einfach eine Zigarette.«
Ich wischte mir über das Gesicht und setzte mich auf.
»Wie spät haben wir es überhaupt?«
»Nachmittags, denke ich«, antwortete Magdalene gleichmütig. Anscheinend war ihr die Uhrzeit völlig egal. Ich betrachtete sie genauer. Sie sah erschreckend blass aus und wie um Jahre gealtert.
»Warum sind Sie schon zurück? Ist etwas passiert?«
Sie zuckte müde mit den Schultern. »Gar nichts und doch alles. Wissen Sie, was man empfindet, wenn man nicht in sein Haus hineinkommt? Wenn man sich im Garten verstecken muss, um nicht gesehen zu werden? Man fühlt sich wie ein Besucher in seinem eigenen Leben.«
Ich nickte ernsthaft. »Ja, das weiß ich sehr gut. Seit gestern.«
Magdalene stand auf und ging zum Fenster. Sie kehrte mir den Rücken zu. Aber ich konnte ihre Traurigkeit spüren wie meine eigene. Als hätten wir den gleichen Traum gehabt. Einen Augenblick der Hoffnung, sogar des Glücks erlebt und beim Aufwachen den brutalen Absturz in die Realität. Welche das auch immer hier war.
»Warum sind Sie eigentlich nach Hause gegangen? Sie hatten doch einen Plan, oder?«
Magdalene drehte sich wieder zu mir um. »Ja, das glaubte ich jedenfalls.«
Sie verschränkte die Arme vor ihrer Brust. »Nachdem Knut vor meinen Augen«, sie stockte, »nachdem er in seinem Arbeitszimmer gestorben ist, habe ich es nur einmal laut geschrien: Norbert ist ein Mörder! Seitdem habe ich geschwiegen. Sie haben mich in eine Klinik gebracht und mit Beruhigungsmitteln
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