Hab keine Angst, mein Maedchen
die Küchentür zu und dämpften ihre Stimmen. Als würde eine damals noch Neunjährige zu dumm sein, um zu begreifen, dass es schlimm für Mama war, so ganz ohne ihren Mann. Wenn ich in die Küche kam, lächelten mir beide aufmunternd zu. Lilly hatte sich bemüht, mehr Kontakt zu mir zu bekommen. Sie wollte mir sogar das Kartenlegen beibringen. Dabei hatte ich mit solchem Firlefanz schon damals nichts am Hut.
Meine Rettung war die Stallgemeinschaft und vor allem die Pferde. Ihnen konnte ich vertrauen. Sie waren nicht falsch. In ihrer Nähe fühlte ich mich geborgen. Die warmen Körper, der dampfende Atem und die klugen Augen. Ich hatte diese schönen Tiere immer gemocht, nun liebte ich sie. Ich war viel im Stall. Mama kam nie mit, sie hatte eine Pferdehaar-Allergie. Es war mir ganz recht. So blieb der Stall ausschließlich mein Revier.
Und dann war plötzlich Steve da. Wie aus dem Nichts.
Eines Abends saß er in unserem Wohnzimmer. Mama trank mit ihm Wein. Das war nicht ungewöhnlich, sie hatte öfter Besuch. Aber an diesem Gast war etwas anders. Genau wie die aufgeladene Stimmung im Raum. Mama war ungewöhnlich nervös, und sie kicherte wie ein junges Mädchen. Das fand ich befremdlich und abstoßend. Deshalb verzog ich mich gleich in mein Zimmer. Sie hielten mich nicht zurück.
Als ich am nächsten Morgen durch das Wohnzimmer in die Küche wollte, sah ich Mamas Schuhe auf dem Teppich liegen. In einer eigenartigen Stellung, als hätte sie sie während des Laufens einfach abgestreift. So hatte ich Mamas Schuhe noch nie herumliegen sehen. In dem Augenblick wusste ich, dass Steve über Nacht bei uns, bei Mama geblieben war.
Er sollte länger als eine Nacht bleiben. Und er tat von Anfang an so, als gehörte er zu unserer Familie.
Lilly mochte ihn auch nicht. Das machte sie mir zum ersten Mal sympathisch. Aber sie riss sich zusammen und behielt ihre Meinung für sich. Ich hatte es gemerkt, obwohl Mama immer behauptete, dass ich kein Gefühl für die Aura und so weiter hätte. Ich hatte. Ich brauchte nur nicht andauernd darüber zu reden.
Schon kurze Zeit, nachdem Steve sich bei uns eingenistet hatte, veränderte sich etwas. Es brodelte regelrecht im Haus und roch nach einem Geheimnis. Meine Mutter war schwanger. Sie erzählte mir die Neuigkeit ganz vertraulich bei einer heißen Schokolade. Es dauerte lange, bis ich den Sinn ihrer Worte begreifen konnte. Der Gedanke war einfach zu absurd. Mama und Steve würden ein Kind haben. Und Mama schien sich sogar zu freuen. Ich war entsetzt und betete inständig, es möge ein Irrtum sein. Mama konnte einfach nicht schwanger sein. Aber sie war es. Ihr Bauch wuchs und wuchs und wurde kugelrund. Mama nahm öfter meine Hand, und ich durfte fühlen, wenn das Baby strampelte. Ich lächelte, obwohl ich todunglücklich war. Mama merkte es nicht. Das zum Thema Intuition.
Die hatte sie auch in der Wahl ihres zweiten Ehemannes nicht bewiesen. Ganz und gar nicht.
Lena kam auf die Welt. Unser Strahle-Baby. Ein so liebes Kind. Ein richtiges Engelchen.
Lena hatte mich vom ersten Moment an geliebt. Das hatten die Erwachsenen jedenfalls behauptet und waren hellauf begeistert. Wie rührend und wunderbar. Geschwisterliebe. Wir waren wieder eine richtige Familie.
Von wegen Familie. Pustekuchen! Ich hatte Lenas Liebe nie erwidert. Tut mir leid, dachte ich zum ersten Mal. Tut mir echt leid, kleine Schwester. Meine Augen begannen zu brennen. Bevor ich zu heulen anfing, fischte ich schnell ein anderes Foto aus dem Koffer.
Das machte mich nicht gerade glücklicher. Steve, der Blender. Er stand vor dem Pferdeanhänger und hielt meinen Filou an den Zügeln.
Nachdem Lena geboren war, verbrachte ich noch mehr Zeit im Stall. Mama machte sich Sorgen. Wenn sie Glück hatte, sah sie mich zu den Mahlzeiten. Sie forderte mindestens zwei reitfreie Tage in der Woche. Das war Steves große Stunde. Er trat als mein Fürsprecher auf und tat so, als interessierte er sich für den Reitsport und könnte meine Leidenschaft verstehen. Er redete Mama sogar ein, dass ein eigenes Reitpony für mich das Beste wäre. Dann würde ich zwar weiterhin viel im Stall sein, aber gleich lernen, was Verantwortung heißt. Wahre Verantwortung. Pah, das hatte der Richtige erzählt.
Aber seine Überredungskünste waren erfolgreich. Meine Mutter ließ sich erweichen. So kam ich zu meinem geliebten Frechdachs Filou. Das war Liebe auf dem ersten Blick. Meine Reitlehrerin war begeistert und schwärmte: »Ihr seid füreinander
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