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Hab keine Angst, mein Maedchen

Hab keine Angst, mein Maedchen

Titel: Hab keine Angst, mein Maedchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Hunold-Reime
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mein Zimmer und zog die Tür hinter sich zu. Er kam näher. Seine Augen glänzten, als hätte er Fieber.
    »Meine Kleine. Warum hast du nicht auf mich gewartet? Komm, ich zeige dir mal, wie das ein richtiger Mann macht.«
    Er konnte vor Erregung kaum sprechen und begann, sich mit zitternden Händen die Klamotten vom Leib zu reißen.
    Ich war völlig geschockt und blieb hilflos wie ein Käfer auf dem Rücken liegen. Obwohl ich mich ekelte, musste ich wie gebannt auf sein erigiertes Glied starren. Es erschien mir brutal groß. Ich wollte um Hilfe schreien, aber ich bekam keinen Ton heraus. Es war, als bestünde die Luft im Zimmer plötzlich aus Beton. Er machte jede Bewegung unmöglich und gab mir das Gefühl, gleich ersticken zu müssen.
    Steve beugte sich über mich. Sein weit geöffneter Mund kam auf mich zu. Die Vorstellung, dass er damit mein Gesicht berühren würde, gab mir die Kraft, den Kopf zur Seite zu drehen.
    Da sah ich sie. Sie stand hinter der Glastür. Lena. Ihr kleines Gesichtchen an die Scheibe gepresst. Die langen, blonden Locken wehten im Nachtwind. Sie sah aus wie ein Engelchen. Unsere Blicke trafen sich. Und ich erkannte in ihren Augen Angst. Lena und Angst. Das war so beunruhigend fremd, dass ich aus meiner Starre erwachte. Ich zog die Beine an und trat zu. Als trainierte Reiterin war ein Tritt von mir keine Streicheleinheit.
    Steve hatte nicht mehr mit Gegenwehr gerechnet, wenn er überhaupt etwas gedacht hatte. Er flog regelrecht von meinem Bett und landete unsanft auf dem Fußboden. Er glotzte mich verdutzt an, dann grinste er und begann sich wieder hochzurappeln. Nein. Er würde mir nicht noch einmal zu nahe kommen. Er durfte nicht aufstehen. Ich sprang hoch und griff wahllos nach dem nächstbesten Gegenstand. Es war die Bronzefigur eines Ponys. Bevor Steve begriff, was ich vorhatte, gab ich ihm damit einen kräftigen Schlag über den Schädel. Diesmal blieb er auf dem Fußboden liegen.
    Mein Blick suchte Lena. Sie stand nicht mehr am Fenster. Ich hoffte inständig, dass sie in ihrem Zimmer war. Ohne mich um Steve zu kümmern, zog ich mir eilig einen Slip über und im Laufen noch ein Shirt. Alles, was ich denken konnte, war: Ich muss Lena finden!
    Ich hatte sie gefunden. Zu spät. Mein Gott, was musste sich in ihrem kleinen Kopf abgespielt haben? Sie hatte ihre geliebte große Schwester beobachtet, die nackt auf dem Bett lag. Sie musste ihren Vater sehen, der sich auch entblößt hatte. Und der sich auf mich gelegt hatte. Was hatte sie davon verstanden? Auf jeden Fall hatte sie Angst gehabt. Und die Angst in ihren Augen hatte mir meine eigene genommen. Lena hatte mich gerettet. Hätte sie nicht am Fenster gestanden, dann hätte das Schwein alles mit mir machen können.
    Lena war mein rettender Engel. So hatte ich das nie gesehen. Ich hatte überhaupt nichts mehr gesehen. Ich hatte mir Scheuklappen aufgesetzt und niemanden an mich herankommen lassen. Sogar das Denken an diese Nacht hatte ich mir abtrainiert. Wenn ein Gedanke der Erinnerung aufkam, hatte ich ihn im Keim erstickt. Ich war eine Meisterin des Verdrängens geworden.
    Die Wahrheit war unerträglich. Mit ziemlicher Sicherheit hatte ich Steve getötet. Zumindest schwer verletzt. Steve war seitdem verschwunden. Hatte Mama seine Leiche im Garten verscharrt, um mich zu beschützen? Immerhin waren wir danach gleich aus dem Haus ausgezogen. Warum hatte sie das für mich getan? Sie musste mich doch gehasst haben. Sie hatte in der Nacht ihre geliebte kleine Tochter verloren. Und gleichzeitig ihren Mann.
    Mein Gesicht war längst nass. Ich stand auf und holte mir noch einmal ein Glas Wasser. Es schmeckte salzig.
    Die Erinnerungen waren lebendig und ließen sich nicht mehr beiseiteschieben. Ich konnte Mama am Unfallort sehen. Lena, die auf der Straße lag. Tot. Mama hatte einen Schock, genau wie ich. Wir sind zusammen für den Rest der Nacht ins Krankenhaus gebracht worden. Als wir am nächsten Tag zurückkamen, war Steve verschwunden. ›Er war verschwunden‹, murmelte ich, als müsste ich mir den Gedanken bestätigen. Mama konnte ihn gar nicht weggeschafft haben! Lebte er etwa noch? Oder hatte Lilly die Hand mit im Spiel? Lilly war auch am Unfallort gewesen. Ich hatte sie für einen kurzen Augenblick gesehen. Lilly! Warum hatte ich nie an sie gedacht?
     
    Interview: männlich, 71 Jahre
     
    Bei dem Wort ›alt‹ muss ich gleich an meinen veränderten Tagesablauf denken. Früher habe ich über den Spruch, dass man als Rentner erst recht

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