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Hab keine Angst, mein Maedchen

Hab keine Angst, mein Maedchen

Titel: Hab keine Angst, mein Maedchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Hunold-Reime
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Ohne Kalorien- oder Cholesterinaufzählerei. Vielleicht sogar einen von Mamas selbst angesetzten Johannisbeerlikören trinken. Danach würde ich mich von Hans abholen lassen. Von ihm und den Kindern, und wir würden nach Hause fahren. Richtig nach Hause. Aber ich konnte nun einmal nicht am Zeitrad drehen. Ich musste mich dem Hier und Jetzt stellen.
    Als ich aufstand, klingelte es ein drittes Mal. Könnte das etwas Mira sein? Meine erwachsene Tochter. Das Temperament, mit dem geklingelt wurde, könnte zu ihr passen. Oder etwa dieser Ohlsen? Kaum, denn der würde nicht so lange draußen stehen bleiben. Der hatte letzte Nacht einen Schlüssel dabei gehabt und wäre längst ohne Aufforderung hereingekommen. Ich wischte mir mit dem Ärmel die letzten Tränen von den Augen und lugte durch den Spion.
    Vor der Tür stand wieder einmal ein wildfremder Mann. Er war in meinem Alter. Nein, korrigierte ich mich in Gedanken. Schätzungsweise Mitte 40. Er war allein und machte keinerlei Anstalten, den Rückzug anzutreten.
    Magdalenes Neffe, schoss es mir durch den Kopf. Mein erster Impuls war, umzudrehen und in das Wohnzimmer zu flüchten. Ich war schon auf halbem Weg, als er das vierte Mal beharrlich auf den Klingelknopf drückte. Okay, du Mistkerl. Ich habe keine Angst vor dir und ich bin nicht so nett wie Magdalene. Du wirst dir die Zähne an mir ausbeißen. Beginnen wir das Spiel!
    Ich riss dermaßen heftig die Haustür auf, dass der Mann vor Schreck einen Schritt zurückwich.
    Das war immerhin ein guter Start und machte mich sicherer. Der Fremde lächelte mir eingeschüchtert entgegen. Ein talentierter Schauspieler. Seine Augen kamen mir irgendwie bekannt vor.
    »Guten Abend«, grüßte er. Seine Stimme klang sympathisch und durchaus herzlich. »Entschuldigen Sie die Störung, aber … Frau Dr. Meinberg, nehme ich an?«
    Es irritierte mich, dass er meinen Titel anführte. Das erinnerte mich an meine Welt von gestern. War das seine Absicht? Wahrscheinlich sollte das so eine Art Vertrauensbasis zwischen uns schaffen.
    »Ja, die bin ich«, antwortete ich so arrogant wie möglich. »Und Sie sind?«
    Nun errötete er sogar.
    »Oh, stimmt. Entschuldigung. Ich habe mich gar nicht vorgestellt. Ich bin Dr. Ohlsen.«
    Er deutete eine leichte Verbeugung an.
    Ich spürte, wie sich meine Augen verengten und sich mein Körper anspannte. An Dr. Ohlsen konnte ich mich noch genau erinnern, besser als mir lieb war. Der hier vor meiner Tür stand, war es jedenfalls nicht. Niemals! Verdammt, was lief jetzt schon wieder völlig quer? Ich lehnte mich an den Türrahmen. Bloß nicht meine Verwirrung zeigen, dachte ich. Und vor allem nicht umdrehen und abhauen. Dann begann womöglich der ganze Zirkus von vorn. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass der Typ allein gekommen war. An der Ecke stand mit Sicherheit ein Krankenwagen. Und Helfer, die nur auf ihren Einsatz warteten. Denen man eingeredet hatte, dass eine der Alten wieder ausrasten könnte. Eine falsche Bewegung, und die Falle schnappte zu. Und dieses Mal ging die Fahrt nicht in das nette Haus am See, sondern in die Psychiatrie.
    Ich atmete tief durch. Ganz ruhig, Michelle. Denk nicht solchen Unsinn. Du brauchst absolut keine Angst zu haben. Du hast die Umstände akzeptiert. Du behauptest nicht mehr, jung zu sein. Du hast eingesehen, du bist eine alte Frau. Kein Grund mehr, dass sich jemand in dein Leben einmischt. Niemand hat das Recht, dich gegen deinen Willen von hier wegzuholen.
    Ich taxierte mein Gegenüber von unten bis oben. Langsam. Mit hochgezogenen Augenbrauen.
    »Schön, aber ich kenne keinen Dr. Ohlsen. Was wollen Sie von mir?«
    Meine Arroganz wirkte wie zu meinen besten Zeiten. Der Fremde vor meiner Tür trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. Mittlerweile war er glühend rot vor Aufregung.
    »Nein, das stimmt. Wir kennen uns nicht persönlich, aber unsere Jungens gehen in die gleiche Klasse.«
    Ich starrte an ihm vorbei. Unsere Jungens. Unsere Jungens gehen in die gleiche Klasse. Das hörte sich so wunderbar vertraut an.
    »Sie gehen auch gemeinsam in die Schach-AG«, fügte er hinzu. »Mein Sohn heißt Olaf. Lasse hat bestimmt schon mal von ihm erzählt.«
    Er kratzte sich verlegen über sein Stoppelhaar und sah mich Hilfe suchend an.
    Ich war nicht fähig zu reagieren. Etwa zu sagen: Stimmt, von Olaf hat Lasse manchmal erzählt. Zum Beispiel, wenn er von einem Schachturnier zurückkam. Wenn ich das sagte, würde ich anerkennen, dass gerade Olafs Vater vor mir stand. Und

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