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Hab keine Angst, mein Maedchen

Hab keine Angst, mein Maedchen

Titel: Hab keine Angst, mein Maedchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Hunold-Reime
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die Verantwortung für sein Leben ab.
    Lilly hat mir eine Schonfrist zum Verschnaufen gegönnt. Dann musste ich mir anhören, was in der Nacht wirklich geschehen war. Ich habe ihre Worte gehört und konnte sie nicht begreifen. Es war einfach zu grausam. Lilly hat mich gefragt, ob ich wissen wollte, was aus Steve geworden ist. Ich wollte es nicht wissen.
    Nach zwei Jahren seiner Abwesenheit habe ich die Scheidung eingereicht. Ich war nicht bereit, seine Witwe zu sein.
    Wieder zu uns, mein Mädchen. Als ich wieder zu Sinnen kam, wurde mir bewusst, wie sehr du mich gebraucht hättest. Gerade in jener Nacht. Ich habe versucht, es nachzuholen. Immer und immer wieder. Aber du hast alle Schotten dichtgemacht. Nicht die kleinste Luke offen gelassen, durch die ich dich hätte erreichen können. In dieser Isolation hast du dir deine eigene Wahrheit gezimmert: Lena sei meine Lieblingstochter gewesen, die du auf dem Gewissen hast. Meine Gefühle für dich wären geheuchelt. Sie beruhten einzig auf meinem Bedürfnis nach Harmonie. Ach, Michelle. Da hast du dich geirrt.
    Als du Hans kennengelernt hast, schöpfte ich Hoffnung. Er ist so ein liebenswerter und zuverlässiger Mensch. Der dich von ganzem Herzen liebt. Ich befürchte, du weißt nicht oder gestehst dir überhaupt nicht ein, wie sehr er dich liebt. Du bist schwanger geworden, und ich habe wieder gehofft. Ein Kind würde deine Schutzwälle durchbrechen, einfach in nichts auflösen.
    Es gab Augenblicke, da sah es fast so aus. Das waren die Momente, in denen du dein Glück zugelassen hast, um im nächsten wieder Angst zu bekommen und dich vor der Liebe zu schützen. Dich zu wappnen, weil du ständig befürchtest, sie wieder zu verlieren.
    Ich habe zu einem drastischen Mittel gegriffen. Aus Liebe. Michelle, meine Zeit hier ist begrenzt. Nein, keine Sorge, ich bin nicht krank. Aber immerhin werde ich bald 80 und ich wollte dich nicht allein lassen, ohne mit dir gesprochen zu haben. Wirklich gesprochen, mit der Gewissheit, dass du mir zuhörst und vielleicht sogar glaubst.
    Das ist der Grund, aus dem ich Lilly gebeten habe, dich von deiner Überholspur zu holen und zur Langsamkeit zu zwingen. Sie sollte dich alt hexen, damit du dich endlich traust, jung und lebendig zu sein und den Mut findest, deinen Gefühlen zu trauen.
    Ich habe meine Entscheidung bereut, denn der Zauber ist nicht ungefährlich. Aber einmal in Gang gesetzt, nicht rückgängig zu machen. Deshalb habe ich dich zu mir an den See ›eingeladen‹. Ich bin mir nicht sicher, ob du mir zugehört hast. Ich war so aufgeregt, weil ich dir noch so viel mit auf den Weg geben wollte. Und so habe ich das Wichtigste vergessen. Was ich dir schon früher hätte sagen sollen. Viel früher. Ich habe es immer gefühlt, aber nie ausgesprochen. Irgendwie war dafür nie der richtige Zeitpunkt. Ich liebe dich, Michelle. Hörst du? Ich habe dich immer geliebt.
    Ich umarme dich
    deine Mama
     
    Ich ließ die Seiten auf den Schoß sinken und starrte ins Leere. Mama. Warum hast du nie so ehrlich mit mir gesprochen? Früher, als ich dafür noch offene Ohren hatte, als ich darauf gewartet habe.
    Ich schloss die Augen. Meine Mutter. Sie hatte in meiner Vorstellung immer ein wenig über den Dingen geschwebt und war mit logischen Argumenten nicht zu erreichen. Sie wollte auch gar nicht erreicht werden, so schien es. Ich war überzeugt, sie brauchte nur ihre kleine, selbst gebastelte Welt und Lilly. Ich war nun einmal ihre Tochter. Der einzige Grund für sie, mit mir Kontakt zu halten. Und ich? Ich kann mich an keines unserer Telefongespräche wirklich erinnern. Dabei haben wir jeden Sonntag miteinander telefoniert. Ich habe Mamas Geplapper an mir vorbeirauschen lassen, damit ich mich nicht aufrege und mir den Sonntag verderbe.
    Kaum vorstellbar, aber meine esoterische, vor Weisheiten übersprudelnde Mutter hatte anscheinend genauso viele Hemmungen, über Gefühle zu reden, wie ich. Über wahre Gefühle. Über Liebe. Ich war ein Wunschkind . Dieser Satz erfüllte mich mit tiefem Glück. Ich lächelte, obwohl mir Tränen über die Wangen liefen.
    Ich war ein Wunschkind. Ein Kind der Liebe, und Lena war – sie war nicht geplant. Und doch war sie ein Engelchen. Kleine Lena. Eine warme Welle der Zuneigung durchströmte mich. Tut mir so leid, kleine Schwester. Ich war blind vor Eifersucht. Dir hat Mama immer ihre Liebe zeigen können. Von Anfang an. Ganz offen. Ihr seid mir so harmonisch und nah beieinander erschienen. Wie aus einem Guss.

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