Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Hab keine Angst, mein Maedchen

Hab keine Angst, mein Maedchen

Titel: Hab keine Angst, mein Maedchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Hunold-Reime
Vom Netzwerk:
Während Mama und ich uns linkisch und oft so wütend gegenüberstanden. Ach, Mama. Ich liebe dich doch auch. Hätte ich dir damals nur von Nicole erzählt und warum Steve sich plötzlich vom Stall zurückgezogen hatte. Du hättest ihn sofort rausgeworfen. Er hätte gehen müssen, und Lena würde noch leben. Aber hätte … In Sachen Konjunktiv waren wir beide uns schon immer einig. Wir mögen ihn nicht. Und nun?
    Mama, wie soll es nun weitergehen? Ich will zurück zu meinen Kindern. Ich will nicht 40 Jahre überspringen. Ich will eine Erinnerung an meine gelebte Vergangenheit haben. Und ich möchte Mira und Lasse nicht nur einen Brief hinterlassen, in dem ich ihnen meine Gefühle beschreibe und gestehe, dass ich sie liebe. Immer geliebt habe. Ja, ich habe auch versäumt, es ihnen zu sagen. Ich habe alles für sie getan, was eine Mutter tun muss. Sicherlich. Aber letztendlich bin ich immer ein wenig auf Distanz geblieben. Ich war nicht zu erreichen. Nicht wirklich. Ich habe meine Kinder nie gefragt, ob sie ein Familientreffen unter dem Kirschbaum schön finden würden. Ich habe einfach für sie entschieden und geglaubt, sie wollen in ihrer Welt genauso wenig gestört werden wie ich.
    Und ich möchte Hans endlich sagen: Ich liebe dich. Er hat es mir oft gesagt. Am Anfang habe ich verlegen gelacht. Später war ich sogar ärgerlich. Das Wort Liebe erschien mir zu groß, um es in den Mund zu nehmen. Vor allem, weil mir das Gefühl Angst gemacht hat. Aber ich möchte es meinen Lieben noch einmal sagen und sie dabei in den Arm nehmen. Dich auch, Mama.
    Ich lehnte mich zurück. Mir war schwindlig. Ich griff mit zitternden Händen nach dem Teebecher und trank. Durch den Tränenschleier sah ich zu Magdalene. Sie lag friedlich auf dem Sofa und schlief. Auf jeden Fall hatte man mir eine Gefährtin mit auf den Weg gegeben. Ein kleiner Trost. Das schwindlige Gefühl ließ nach. Ich atmete durch. Da klingelte es an der Haustür.
    Interview: weiblich, 24 Jahre
     
    Bei dem Wort ›alt‹ denke ich an Altersheim, Weisheit, innere Gelassenheit, Ratschläge, Blick auf die Vergangenheit und Aufarbeitung.
    Ich mag an alten Menschen nicht, wenn sie ausländerfeindlich sind. Eine Freundin von mir sieht sehr südländisch aus, und sie arbeitet in einem Altersheim. Es gibt da Bewohner, die sich nicht von ihr anfassen lassen wollen. Und ich mag das Leistungsdenken nicht: ›Spare, lerne, leiste was, dann hast du, kannst du, bist du was!‹ Gruselig!
    Mir imponiert an alten Menschen, wenn sie gelassen sind. Mein Vorbild war mein Opa. Er hatte Kinderlähmung und musste im Rollstuhl sitzen. Ich saß oft auf seinem Schoß, und er hat mir die Einstellung beigebracht, Menschen so anzunehmen, wie sie sind. Das konnte mein Opa. Er hat unsere Familie zusammengehalten, und jeder hat sich bei ihm ausgesprochen. Seit er tot ist, gibt es kaum noch Familienfeiern.
    Wenn ich plötzlich mein Heim verlassen müsste, würde ich wohl Geld mitnehmen. Natürlich auch Dinge mit symbolischem Wert wie Fotos und Geschenke von Freunden und (lacht) mein Handy.
    86 Jahre alt? Das kann ich mir nicht vorstellen.
    Aber wenn ich so alt werde, dann wünsche ich mir, dass ich versöhnlich auf meine Vergangenheit, auf mein Leben zurückblicken kann. Meine Fehler einsehe und auch offen zeigen kann, dass ich aus ihnen etwas gelernt habe.

Kapitel 19
     
    Beim zweiten Mal wurde der Klingelknopf länger gedrückt. Ein ungeduldiger Mensch. Wie lange würde er durchhalten, bevor er entnervt aufgab? Unwichtige Überlegungen. Was hätte ich dadurch gewonnen? Einen kurzen Aufschub. Und letztendlich nur eine Verlängerung der Ungewissheit. Weiterhin banges Warten und Nachdenken, wie es mit mir und Magdalene weitergehen sollte.
    Wer da auch immer vor meiner Tür stand, er würde wiederkommen. Das nächste Mal vielleicht gar nicht erst klingeln, sondern mit einem Schlüssel ausgerüstet sein. Nein, es machte wenig Sinn, sich tot zu stellen. Selbst, wenn der Gedanke verlockend war, hier still sitzen zu bleiben und sich einfach zu verstecken. Ich befürchtete, dann würde ich nur verschenkten Chancen hinterhertrauern. Dazu hatte ich nie geneigt, denn das waren keine aufbauenden Gedanken. Man versackte mit ihnen in Grübelschleifen, die irgendwann unüberschaubar wurden. Kein Wegweiser mehr in Sicht zum Herauskommen.
    Wenn ich könnte, würde ich auf der Stelle die Zeit zurückstellen und bei Mama in ihrer Datscha sitzen und ein Stück saftigen Zwetschgenkuchen mit Schlagsahne vertilgen.

Weitere Kostenlose Bücher