Hab und Gier (German Edition)
Kollegen noch länger zu beschäftigen. Am Donnerstag rief ich mit schlechtem Gewissen Judith an, denn ich wollte ihr mit meinen Problemen nicht auf die Nerven fallen, und sie wimmelte mich ab. Man hatte sie für Freitag zur langen Lesenacht verdonnert. Ebenso wie ich konnte sie mit fremden Kindern wenig anfangen und fand sie alles andere als süß.
Noch nie habe ich verstanden, warum man diese absurde Mode unbedingt mitmachen muss! Die Klassenlehrerin einer Grundschule stellt sich abends mit ihren Schülern in der Bücherei ein, Mütter schleppen Schlafsäcke an, Luftmatratzen, Kissen, Decken und Taschenlampen, Schlafanzüge, Waschlappen und Zahnbürsten. Die Kinderkarawane ist bepackt mit Rucksäcken voller Kuscheltiere, krümelndem Sandkuchen, Sprudelflaschen, Chips und allerlei klebrigen Süßigkeiten. Sie richten sich ein unbequemes Lager zwischen Buchregalen ein, und die betroffene Bibliothekarin muss eine Geschichte nach der anderen vorlesen. Danach darf bis in die Puppen geschmökert werden, und im Anschluss muss die bedauernswerte Lehrerin Nachtwächter spielen. Nach einem gemeinsamen Frühstück am Samstag werden die übermüdeten Kinder nach Hause geschickt, und ihre Eltern haben die Aufgabe, ihre misslaunige Brut wieder in einen geordneten Rhythmus zu zwingen. Bevor sie abziehen, sollen die lieben Gäste zwar noch aufräumen, aber der Löwenanteil bleibt an der Bibliothekarin hängen, die zwar anschließend freihat, aber ebenso erschossen wie die Kids ins Wochenende geht. In meinem zurückliegenden Berufsleben hatte ich nur einmal diese Tortur durchgemacht, später konnte ich mich als Älteste erfolgreich darum drücken. Wolfram, der den Umgang mit erwachsenen Kunden lieber vermied und sich am liebsten mit Katalogisierung, Mahnwesen und Fernleihe beschäftigte, meldete sich dagegen stets freiwillig, angeblich hatte er einen guten Draht zu Zehnjährigen. Ich erinnerte mich, dass er sich als Vampir verkleidete, um in einer Halloween-Nacht schaurige Geschichten vorzulesen. Damals hatte er uns regelrecht Eindruck gemacht, weil er als Dracula etwas geradezu Dämonisches hatte. In den folgenden Jahren überraschte er uns als Gespenst und sogar als Werwolf.
Damals dachten wir, dass ein Schauspieler an ihm verlorengegangen sei. Doch im Zusammenhang mit der rätselhaften Grabinschrift erschien er mir mittlerweile fast als Untoter. Als würde er nachts neben seiner Bernadette in der Grube ruhen, tagsüber hingegen noch ein wenig Schabernack treiben – während Dracula ja tagsüber artig im Sarg lag und nur nachts über seine Opfer herfiel.
3
In der Höhle des Wolfs
Es dauerte über eine Woche, bis ich mich aufraffte und Wolfram aufsuchte. Inzwischen hatte ich mir klargemacht, dass uns mehr als der ehemalige Beruf verband: Wir beide waren die Einzigen aus unserem ehemaligen Team, die in Weinheim wohnten, obwohl sich unser Arbeitsplatz in einer hessischen Nachbargemeinde befand. Trotzdem hatten wir uns nie gegenseitig abgeholt und mitgenommen. Jeder fuhr im eigenen Wagen zur Stadtbibliothek. Hin und wieder überholte ich Wolfram und hupte, während er vor sich hin tuckerte. Außerdem waren wir beide unfreiwillig kinderlos.
Als ich mit zweiundzwanzig Jahren heiratete, meinte mein Mann, wir sollten uns mit dem Nachwuchs noch etwas Zeit lassen. Wir waren beide jung und sparten für allerlei Anschaffungen, die wir damals für dringend notwendig hielten. Ich ließ mir die Pille verschreiben, was zu jener Zeit nicht selbstverständlich und mit unangenehmen Nebenwirkungen verbunden war. Hormonelle Verhütungsmittel wurden damals prinzipiell nicht an ledige Frauen abgegeben, denn der Staat wollte der Unmoral nicht Vorschub leisten. Doch im Hafen der Ehe war ich ja bereits gelandet. Aber auch unverheiratete Paare fanden Mittel und Umwege, sich Ärztemuster oder ein Rezept zu verschaffen. Der Kuppelparagraph wurde schon bald abgeschafft, und eine heimliche Revolution veränderte das Land: Es wurden weniger ungewollte Kinder geboren, und junge Paare konnten ungestört und ohne Angst zusammenleben.
Jedenfalls nahm ich als jungverheiratete Frau jeden Morgen nach dem Zähneputzen zähneknirschend meine Hormonpille und wurde auch ohne Babybauch zusehends rundlicher. Ein paar Jahre später hatte ich den leisen Verdacht, dass mein Mann fremdging, aber ich wollte ihn nicht mit unbegründeten Eifersuchtsattacken belästigen und schwieg. Erst als man mir zutrug, dass er seine Freundin geschwängert hatte, rastete ich aus und
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