Haben Sie Hitler gesehen - Haben Sie davon gewußt
sozialdemokratisch geschulte Arbeiter, selbst gläubige Christen oder Marxisten, sich angesichts von Hitlers nicht abreißenden Erfolgen und Wundertaten immer wieder fragten– fragen mußten–, war: Könnte es sein, daß meine eigenen Maßstäbe falsch sind? Stimmt vielleicht alles nicht, was ich gelernt und woran ich geglaubt habe? Bin ich nicht durch das, was hier unleugbar vor meinen Augen geschieht, widerlegt? Wenn die Welt– die wirtschaftliche Welt, die politische Welt, die moralische Welt– wirklich so wäre, wie ich es immer geglaubt habe, dann müßte doch ein solcher Mann auf die schleunigste und lächerlichste Weise Schiffbruch machen, ja er könnte doch überhaupt nie so weit gekommen sein, wie er gekommen ist! Er ist aber in weniger als zwanzig Jahren aus dem völligen Nichts zur Zentralfigur der Welt geworden, und alles gelingt ihm, auch das scheinbar Unmögliche, alles, alles! Beweist das nichts? Zwingt mich das nicht zu einer Generalrevision aller meiner Begriffe, auch der ästhetischen, auch der moralischen?
Wie gesagt, eigentlich ein durchaus sympathischer Selbstzweifel, und weit verbreitet auch heute noch, in einer Zeit ständigen Weltwandels und einer grundsätzlichen Skepsis, die sich nur noch durch das Experiment überzeugen läßt. Aber von dort bis zum ersten, noch halb widerwilligen » Heil Hitler« war es nicht weit. Das Experiment Hitler schien eben gelungen– und beweiskräftig.
Nein, Gott sei Dank, nun mißlang es doch– nun hatte er sich doch verrechnet, nun gab es Krieg! Man hatte es ja immer kommen sehen! Der Kriegsausbruch war der stärkste Knick in der schon fast vollständig gewordenen Hitlergläubigkeit der Deutschen, der Krieg war unpopulär, und er bewies auch, daß Hitler eben doch nicht unfehlbar war. Jetzt fielen viele innerlich ab, einige Generäle und Politiker spielten sogar mit Umsturzplänen. Und dann– wieder nichts! Der Mann blieb auch im Krieg ein Wundertäter. Polen in drei Wochen erledigt, Frankreich in sechs Wochen– jetzt war kein Zweifel mehr, Hitler hatte übernatürliche Kräfte. Als er dann auch Rußland und Amerika annahm, folgten ihm alle bedenkenlos.
Und dann? Ja, dann wurde es eben ernst. Der Wunderglaube an Hitler starb nach Moskau und Stalingrad. Auch wohl die Hitlerbegeisterung von einst. Hitler selbst wurde unsichtbar, das magische Band zwischen ihm und den Deutschen ließ er abreißen. Die Schreckenstaten, die den Krieg begleiteten, verheimlichte er vor den Deutschen, so gut es ging, und sie wollten ja auch lieber gar nichts davon wissen– immer noch, wenn man will, eine Art stummes Einverständnis, eine Verschwörung des Schweigens. Denn jetzt wurde das allbeherrschende Gefühl einfach: » Mitgegangen, mitgehangen.« Für eine innere Auseinandersetzung mit Hitler war es jetzt zu spät. Auch für diese letzte Phase gibt es eine Aussage von brutaler Aufrichtigkeit in Kempowskis Zitatensammlung: die von dem jetzt 45jährigen Zahnarzt, der 1945 Adolf Hitler in sein Gebet einschloß, während er unter der Bettdecke BBC hörte: Das könnte man fast als Symbol für den allgemeinen deutschen Seelenzustand in der späteren Kriegsphase bezeichnen. » Ich hatte Angst vor dem, was jetzt kommen würde.« Die letzte Klammer zwischen Hitler und den Deutschen war Angst.
Das war denn auch das einzige, was die Alliierten in Deutschland vorfanden, als sie das besiegte und zerstörte Land 1945 übernahmen. » Angst, aber keine Besserung«, konstatierten sie enttäuscht. Es gab keine Revolution wie 1918. Auch keine sichtbare Umkehr, auch keine Reue. Schuldbekenntnisse gaben nur die Unschuldigsten ab– die Bekennende Kirche zum Beispiel. Im übrigen waren die Deutschen ja freilich auch vollauf mit Überleben beschäftigt. Die Selbstmorde Hitlers und der anderen Nazigrößen 1945, die Hinrichtung der zweiten Garnitur in Nürnberg 1946 fanden kaum ein Echo. Auch die Anfänge eines neuen öffentlichen Lebens, die Ländergründungen, der Frankfurter Wirtschaftsrat– alles kaum wahrgenommen; selbst die Staatsgründungen von 1949 blieben matt. Fremde Beobachter gaben der neuen Bonner Demokratie kein langes Leben. » Die Deutschen sind über Hitler nicht hinweggekommen«, war das allgemeine Urteil. Und von der » unbewältigten Vergangenheit« redeten ja auch die Deutschen selbst noch jahrelang, bis sie des Schlagworts allmählich müde wurden und merkten, daß an dieser Vergangenheit nichts mehr zu bewältigen war. Sie hatte sich erledigt.
Die Art, wie sie sich
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