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Haben Sie Hitler gesehen - Haben Sie davon gewußt

Haben Sie Hitler gesehen - Haben Sie davon gewußt

Titel: Haben Sie Hitler gesehen - Haben Sie davon gewußt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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erledigt hat, das beinah stumme Zu-den-Akten-Legen und Darüber-Hinweggehen, hat viel Kopfschütteln erregt. Man hatte eine Auseinandersetzung mit den Nazis erwartet, so etwas wie einen Kampf und nachträglichen Sieg der Gegner Hitlers über seine Anhänger– und dabei übersehen, daß das gar nicht möglich war, weil sie dieselben Leute waren. 1938 oder 1940 hatte es kaum mehr Hitlergegner gegeben, und jetzt gab es kaum mehr Hitleranhänger. Nicht davon zu reden, daß wohl fast jeder immer ein Stückchen Anhänger und ein Stückchen Gegner in sich gehabt hatte. Natürlich gab es die Erz- und Urnazis, die alten Kämpfertypen, und die sind auch nachgewachsen (die ursprünglichen sind jetzt wohl meistens tot) und haben immer wieder einmal ein bißchen von sich reden gemacht. Wie ich schon sagte, sie sind das faschistische Potential, das es als Randgruppe in allen Ländern und zu allen Zeiten gibt. Man lebt mit ihnen wie mit den Viren und Bakterien, die man ständig mit sich herumträgt, ohne an ihnen zu erkranken.
    Die große Kollektivkrankheit, das Hitlerfieber, das die Deutschen um 1930 befiel und sie dann fünfzehn Jahre durchschüttelte, hatte mit ihnen kaum etwas zu tun. Woher das kam, das habe ich zu erklären versucht, und wer dieser Erklärung folgt, wird leicht verstehen, warum es nicht zurückgekehrt ist. Der Wunderglaube an Hitler war schon in der zweiten Kriegshälfte gestorben. Die Kollektivangst, die er hinterlassen hatte, legte sich in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre. Die Wirtschaftskrise, die Hitler seine große Chance gegeben hatte, ist nicht wiedergekommen. Das Wirtschaftswunder und die außenpolitischen Erfolge, die ihn zu bestätigen schienen, hat inzwischen auch die Demokratie zustande gebracht– sogar ein besseres Wirtschaftswunder und gesündere außenpolitische Erfolge, auch wenn sie heute Alltagskost geworden sind. Die Chancen für einen neuen Hitler, wenn es ihn gäbe, sind heute in Deutschland denkbar schlecht. Die Deutschen warten auf keinen Messias mehr. Der eine, falsche, auf den sie hereingefallen sind, war ihnen genug.
    Überstandene Krankheiten, sagt man, geben Immunität. Man bekommt die Masern nicht zweimal. Man denkt an die überstandenen Masern auch nicht viel zurück. Hitler ist heute in Deutschland kein Gesprächsthema. Die Älteren erinnern sich an ihn, o ja, zweifellos. Wenn man sie fragt, antworten sie: » Dann hat er die Front abgeschritten, und es sind mir heilige Schauer durch den Körper gegangen.« » Mir ist heute noch rätselhaft, wie ein Mann einen so mitreißen konnte.« So wie man eben von überstandenen Krankheiten spricht. Ich finde das gesund.
    Nur im Generationskampf ist Hitler immer noch eine Waffe. Ältere Professoren und Journalisten bekommen periodisch Zitate aus Büchern und Artikeln an den Kopf geworfen, die sie zwischen 1933 und 1945 geschrieben haben. Meist werden sie dadurch in peinliche Verwirrung versetzt. Mir tun sie eher leid, und ich frage mich, was ihre jungen Verfolger wohl damals geschrieben hätten, wenn sie hätten schreiben können– denn von Symptomen milden Kollektivfiebers sind auch sie nicht immer frei; jede Zeit entwickelt ja ihr eigenes. Was aber Hitler und die Deutschen betrifft, so ist der heutige Stand der Dinge unübertrefflich in dem kurzen Dialog aus Marlowes Juden von Malta zusammengefaßt, der einen Hemingwayroman als Motto ziert:
    » Aber du hast Hurerei getrieben.«
    » Ja. Aber das war in einem anderen Land. Und außerdem ist die Hure tot.«
    (1973)

Walter Kempowski
    Haben Sie davon gewußt?
    Deutsche Antworten
    Mit einem Nachwort von Eugen Kogon

Die Jahreszahlen verweisen auf das Geburtsjahr der jeweiligen befragten Person.

Editorische Notiz
    » Das haben wir nicht gewußt«– diese Antwort kriegten viele Ausländer nach dem Krieg in Deutschland zu hören. Sie wurde typisch für die Ohne-mich-Einstellung, mit der man sich 1945 der Verantwortung für die Naziverbrechen zu entziehen suchte: Mich hat immer interessiert, ob die Deutschen tatsächlich so unbegreiflich uninformiert gewesen sind oder ob diese Antwort eher als eine trotzige Abwehr zu verstehen ist, mit der meine Landsleute ihre Betroffenheit verbargen.
    Ich habe dann also, um Genaueres zu erfahren, vielen Menschen diese Schlüsselfrage gestellt: » Haben Sie davon gewußt?«, und ich war überrascht von der Freimütigkeit, mit der die Frage bejaht wurde. Vielleicht lag es an der uninquisitorischen Art, in der ich fragte, vielleicht haben die Deutschen

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