Haben Sie Hitler gesehen - Haben Sie davon gewußt
aber auch inzwischen den Ungeheuerlichkeiten gegenüber zu einer anderen Einstellung gefunden. Ich habe die sprichwörtlich gewordene Antwort » Davon haben wir nichts gewußt« jedenfalls äußerst selten zu hören bekommen. Fast jeder Befragte sagte allerdings gleich erst einmal: » Nein!« Und dieses » Nein!« sollte wohl bedeuten: Ich will nichts damit zu tun haben. Nach diesem ersten schroffen Nein gab man mir dann aber freimütig das preis, was man sich in einer immer wieder notwendig vollbrachten Denkarbeit zum Abruf zurechtgelegt hatte.
Es stimmt schon, wir wissen heute alles über die KZ s der Nazis, die Literatur ist unübersehbar. Wenn ich mich dennoch entschloß, die Aussagen zu veröffentlichen, so tat ich es einerseits, um die Erinnerungen an meine eigene achtjährige Zuchthauszeit in Bautzen– beschrieben in den Büchern Im Block und Ein Kapitel für sich – gebührend zu relativieren. Andererseits dachte ich mir, wenn diese Bilder, die unsere Mitmenschen noch immer mit sich herumtragen, diese schattenhaften Eindrücke, nicht aufgeschrieben und aufgehoben werden, dann ist das Leiden all der vielen Opfer noch sinnloser, als es ohnehin schon war. Aufgeschrieben und nach Hause getragen, kann wenigstens noch das Echo der Schrecken vernommen werden, es kann zur Schärfung unseres Gewissens dienen.
Der Leser sollte von der Lektüre dieser etwa 300 Antworten, die übrigens nur eine Auswahl aus meinen Aufzeichnungen sind, kein demoskopisch exaktes, repräsentatives Ergebnis erwarten. Ähnlich wie in meinem Buch Haben Sie Hitler gesehen? – das in gewisser Weise als ein Pendant zu dieser Sammlung gelten kann– hat er aber die Möglichkeit, mit einer Sonde sich Zugang zu verschaffen zum gegenwärtigen Bewußtseinsstand unseres Volkes.
Dem Leser meiner Romane, dieser » deutschen Chronik«, wird durch die » Befragungsbücher«, wie man sie nennen könnte, eine allgemeinere, ja chorische Begleitung und Erklärung an die Hand gegeben. Mag er die Romane für zu privat oder die » Befragungsbücher« für zu allgemein halten: In der Gegenüberstellung beider liegt die Wahrheit verborgen, ist die Antwort zu suchen auf die Frage: Wie konnte es geschehen?
Zum Schluß noch eine Bemerkung. Mir widerstrebte es, bei der Anordnung der vielen Antworten dramatische Prinzipien walten zu lassen. Ich wollte diese meistens in tiefem Ernst abgegebenen Antworten nicht durch eine zyklische Struktur künstlich zurichten. Am angemessensten erschien es mir, die Antworten chronologisch zu reihen, also nach dem Datum, das die Befragten für die jeweilige Erinnerung annahmen oder angaben, wobei sie sich allerdings zuweilen irrten. Ganz von selbst ergab es sich freilich, daß ich, ohne dieses Prinzip zu verlassen, Zusammengehöriges zusammenstellte.
Walter Kempowski
1
Bäcker, 1917
Nein, ich nicht; nee.
Bäcker, 1917
Ob ich von KZ gehört hab’? Eigentlich weniger.
Hausfrau, 1898
Ich bin in einer Kleinstadt groß geworden. Ich kannte keine Juden. Wir haben mal eine Jüdin hier am Haus gehabt, die war aber lange tot, als das mit den Juden losging, das war ’ne alte Frau.
Und sonst haben wir Umgang mit Juden gar nicht gehabt.
Hausfrau, 1896
Nein. Selbst durch Mundpropaganda nicht, ehrlich nicht. Da war ja jeder vorsichtig. Wenn’s wirklich jemand erfahren hätte, der hätte sich gehütet, das weiterzuerzählen.
Ein Mann, 1897
Gehört kaum. Bei uns in Wilhelmshaven gab’s kaum Juden, die waren ganz schnell verschwunden. Von KZ hab’ ich auf Ehre nichts gewußt.
Eine Frau, 1931
Das Wort » Konzentrationslager« ist mir nur im Geschichtsunterricht begegnet, und zwar im Zusammenhang mit den Buren.
Vertreter, 1921
Was die Russen gemacht haben?– Die Nazis?– Nein. Ich bin bei der Marine gewesen, ich hab’ davon nix gemerkt und erfahren.
Lebensmittelhändler, 1912
Ich nehme es den Leuten ab, die in Kleinstädten gewohnt haben, den Krieg über, daß sie nichts gewußt haben; den Nazis sowieso, weil die nichts wissen wollten.
Fahrer
Wollen Sie auch die Behauptung von Kiesinger hören, daß er nichts gewußt hat?
Dozent, 1931
Merkwürdig, daß uns das Ausland das nicht abnehmen will, daß wir nichts von den Vergasungen gewußt haben. Wahrscheinlich ist es in Rußland jetzt genauso oder doch so ähnlich. Jede Diktatur hat das wohl als Staatsgeheimnis, daß da Leute eingesperrt werden.
Landwirt
Mir ist es unverständlich, daß die ältere Generation heute immer wieder sagt, sie hätte von all diesen
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