Haben Sie Hitler gesehen - Haben Sie davon gewußt
erklärt den weiteren Massenzustrom, der bis 1938 die Zustimmung und Selbstunterwerfung bis zu 90 Prozent und darüber hinaus trieb? Wenn Hitler in den Jahren 30 bis 33 sich hauptsächlich als Retter in der Not dargestellt und mit seinen böseren Absichten eher hinter dem Berge gehalten hatte– einmal an der Macht, zeigte er ja sofort die Krallen: Verbot aller konkurrierenden Parteien, Verfolgung politischer Gegner, Judenverfolgung, Kirchenkampf, Pressegleichschaltung, Kulturknebelung, Rechtsbeugung, Konzentrationslager, in denen gefoltert wurde, ungesühnte Mordtaten–, wie konnte das alles ignoriert, verziehen oder sogar gebilligt werden, wie kann man erklären, daß es keine Gegenbewegung und keinen wirksamen Widerstand erzeugte, sondern daß im Gegenteil Hitler als Machthaber auch die ehemaligen Gegner und die ehemals Zweifelnden fast vollzählig zu sich herüberzog?
Merkwürdigerweise finde ich es in der Rückschau erklärlicher, als ich es damals fand. Damals sah ich es mit fassungsloser Empörung mit an, mit Grauen und Ekel, bis ich schließlich wegging. Übrigens denn doch nicht ich allein. Die » innere Emigration«– man mag darüber denken, wie man will, aber es gab sie. Ich habe bis 1938 in Berlin gelebt, und ich lebte damals in einem verhältnismäßig großen Freundes- und Bekanntenkreis, der ausschließlich aus Hitlerfeinden bestand. Das war gar nicht besonders schwierig oder unbequem; im Gegenteil, wie leicht bildeten sich damals Freundschaften auf der bloßen Grundlage gemeinsamen » Dagegenseins«! Manchmal konnte man fast der Täuschung verfallen, daß die meisten Leute im Grunde immer noch » dagegen« seien. Natürlich war das eine Täuschung. Und natürlich half alles Dagegen sein nichts, da es nichts gab, was man effektiv dagegen tun konnte, und da man mit allem, was man tat, auch dem Harmlosesten, ja doch irgendwie dem diente, was man so erbittert ablehnte. Aber ich komme ab. Ich will ja hier nicht die Psychologie der Hitlergegner erklären, sondern die der späteren Hitleranhänger. Und wie gesagt, die Erklärung fällt mir heute leichter als damals.
Sie ist nicht in allen Fällen besonders schmeichelhaft, auch heute noch nicht. In manchen ist es allzumenschlich. Zum Beispiel darf man den Faktor Angst nicht ganz übersehen. Nach 1933 war es ja nicht mehr ungefährlich, in Deutschland ein offener Hitlergegner zu sein. Es gab Konzentrationslager, und es gab Denunzianten. Viele Leute nahmen Schutzfarbe an. Und Schutzfarbe hat oft die unangenehme Eigenschaft, auf die Dauer auch nach innen abzufärben.
Es gab noch etwas anderes, noch weniger Attraktives als Angst: den verbreiteten Wunsch, sich dem Triumphzug des Siegers einzureihen, dabeizusein, mitzumachen. Auch das ist ein ewiger, menschlich-allzumenschlicher Zug. Er ist heute so wirksam wie eh und je. Bei den Wahlen vom 19. November 1972 zum Beispiel bekam bekanntlich die SPD knapp 46, die CDU knapp 45 und die FDP gut 8 Prozent der Stimmen. Bei einer Meinungsbefragung vier Wochen später war das Ergebnis: SPD 52 Prozent, CDU 29 Prozent, FDP 16 Prozent. Ich sympathisiere mit der SPD und FDP mehr als mit der CDU , aber ich kann mir nicht helfen, als ich dies Umfrageergebnis las, fiel mir der Frühling und Sommer 1933 wieder ein– die unwürdige Hast, mit der viele, die im März noch gegen Hitler gestimmt hatten, jetzt auf seinen Siegeswagen kletterten. Die » Märzgefallenen« von 1933 scheinen mir auch heute noch die Verächtlichsten unter allen späteren Gefolgsleuten Hitlers.
Aber nicht alle diese Spätbekehrten waren verächtlich, und nicht alle handelten nur aus Angst oder aus Opportunismus. Was die Zweifler bekehrte und die Gegner unsicher machte, was die Empörung über die Konzentrationslager übertönte und die Kritik an Rassegesetzen, Kultur- und Kirchenfeindschaft zum bloßen » Meckern« abwertete, war zweierlei: das Hitlersche Wirtschaftswunder und die unglaublichen, ebenfalls an Wunder grenzenden Erfolge Hitlers in der Außenpolitik. Dem war in der Tat schwer zu widerstehen.
Von Hitlers Wirtschaftswunder spricht heute keiner mehr. Es hat’s aber gegeben, und es war für die Mitlebenden ein größeres Wunder als später die Erhardsche Wiederaufbaukonjunktur. 1933 gab es in Deutschland sechs Millionen Arbeitslose; 1936 herrschte Vollbeschäftigung. Was alle die Brünings und Brauns für unmöglich erklärt hatten– Hitler hatte es geschafft, in kurzen drei Jahren. Sein Versprechen, die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen,
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