Hades und das zwoelfte Maedchen
könnte er niemals mit Sicherheit wissen.
„Also“, begann Ingrid eines Tages, als sie durch die Gärten von Eden Manor spazierten. „Wenn du tatsächlich Hades bist und ich die neue Persephone sein soll, wo sind dann die Granatapfelkerne?“
„Die … was?“, fragte Henry.
„Die Granatapfelkerne. Du weißt schon, im Mythos isst Persephone ein paar Kerne, als sie in der Unterwelt ist, und deshalb muss sie bei dir da unten bleiben.“
Ausdruckslos blickte Henry auf Ingrid hinab. „Persephone mochte Granatäpfel, das stimmt schon, aber ich fürchte, die Geschichte, die du da gehört hast, hat mit der Realität nichts zu tun.“
„Aber natürlich nicht“, erwiderte sie und verdrehte die Augen. „Du hast mich doch auch nicht entführt.“
Fast hätte er sich verschluckt. „ Entführt? “
„Du hast wirklich keine Ahnung, oder?“ Ingrid nahm seine Hände und führte ihn zur nächsten Bank, und in der warmen Brise erzählte sie ihm alles, was sie vom Mythos über Persephone wusste. Und je mehr sie erzählte, desto klarer wurde Henry, dass es wirklich nichts als ein Mythos war, der so gut wie keinen Fetzen Wahrheit enthielt. War das wirklich, was die Welt über ihn dachte? Was Ingrid über ihn dachte?
Als sie fertig war, erzählte er ihr die wahre Geschichte, jeden qualvollen Augenblick davon. Von seiner Zustimmung zu der arrangierten Ehe über die katastrophale Hochzeitsnacht bis hin zu Persephones Affären. Vor allem die mit James.
Und statt ihn mit Fragen zu überhäufen, wie sie es sonst immer tat, blieb Ingrid stumm. Noch nie hatte er es jemandem erzählt, nicht so, nicht als ob es in grauer Vorzeit geschehen sei. Mit jedem Wort fiel ein Stück Last von seinen Schultern, und als er schließlich geendet hatte, fühlte er sich seltsam leer. Nicht geheilt, aber immerhin, als wäre in ihm jetzt Raum für mehr.
„Es tut mir leid“, sagte sie leise. „Es ist furchtbar, was du durchmachen musstest.“
„Ich fürchte, das habe ich mir selbst zuzuschreiben“, erklärte er mit einem schwachen, traurigen Lächeln, doch Ingrid schüttelte vehement den Kopf.
„Du bist verrückt, wenn du das glaubst. Natürlich ist das nicht deine Schuld. Du warst genauso ein Opfer wie sie, und du hast – du hast nichts Falsches getan. Sie ist diejenige, die dir das Herz gebrochen hat.“
„Ich bin es, der ihr überhaupt erst diese Ehe aufgezwungen hat.“
„Nein, die hat ihr ihre Mutter aufgezwungen. Du hast alles in deiner Macht Stehende getan, um eine schreckliche Situation für euch beide erträglich zu machen.“ Sie rückte näher an ihn heran und ließ ihre Hand über seinen Arm hoch zu seiner Schulter gleiten. „Ich verstehe schon, warum du mich nicht so liebst, wie ich es mir wünsche, und ich werde dich niemals bedrängen. Versprochen! Aber tu dir einen Gefallen, und versuch wenigstens, darüber hinwegzukommen, in Ordnung? Selbst wenn wir auf ewig nur Freunde bleiben: Wir könnten glücklich sein. Wirklich, wirklich glücklich.“
„Nichts würde mir mehr gefallen“, murmelte er und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. „Persephone ist meine Vergangenheit. Eine Vergangenheit, die ich niemals vergessen werde. Aber du, Ingrid, bist meine Zukunft. Und zum ersten Mal seit Äonen graut mir nicht davor.“
Ingrid lehnte sich zu ihm hinüber und streifte mit den Lippen seinen Mundwinkel. Es war eine so intime Geste, dass Henry fast zurückgewichen wäre, doch er konnte es nicht. Nicht wenn er dadurch möglicherweise Ingrid verlieren würde. „Das will ich dir auch geraten haben“, raunte sie mit einem spielerischen Lächeln. „Wir werden glücklich miteinander sein – das weißt du, nicht wahr?“
„Ja.“ Zumindest hoffte er es.
„Gut.“ Wieder grinste sie kess, und ein Funkeln lag in ihren blauen Augen. „Also, ich meinte das mit den Kernen ernst. Es muss eine Zeremonie geben, um das Ganze offiziell zu machen. Anders geht es nicht, das ist ja wohl klar.“
„Tatsächlich?“, meinte er amüsiert und nahm ihre Hand zwischen seine. „Na gut. Für dich werde ich es tun.“
Mit einem begeisterten Jauchzen warf sie ihm die Arme um den Hals. „Kann ich ein Kleid anziehen? So ein richtig tolles?“
„Das schönste Kleid, das du dir vorstellen kannst“, versprach er und küsste ihre Fingerknöchel. „Du kannst alles haben, was du begehrst.“
Ihr Grinsen verwandelte sich in ein warmes Lächeln, und sie legte ihm die Hand an die Wange. „Weißt du das nicht? Das habe ich schon
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